Dolomiten Roadtrip: Alpinkletterklassiker 2017
Alpine Klassiker zwischen Sella und Pala
Für einen Familienvater sind die wirklichen Alpinkletterurlaube rar: sind die Kurzen mit am Start kommen wir in der Regel nicht über den Umlenker von Sportkletterrouten hinaus. Umso erfreulicher, wenn Frau und Kinder samt Großeltern einen Bauernhofurlaub planen. Bauernhofurlaub hatte ich meine ersten 20 Lebensjahre lang, das tausche ich gerne gegen ein paar gepflegte Tage in den Dolomiten. Für eine ganze Woche lohnt es sich dann auch mal ein etwas weiter zu fahren, so dass mein Lieblingsgebiet - die Palagruppe - eine realistische Option darstellt.
Der Schorsch lässt sich sofort für den Plan begeistern und nachdem er mich die letzten Male durchs Gebirge chauffiert hat, übernehme ich diesmal den Fahrdienst. Wir gehen es gemütlich an und ich hole ihn um 8 Uhr in Sindelsdorf ab. Das an einem Samstag im August auf den Autobahnen nach Süden ein Gedränge wie am Oktoberfest herrscht überrascht uns nicht wirklich, bei der Zeitplanung haben wir es aber nicht berücksichtigt. So sind wir erst nach 13 Uhr am Falzaregopass - und haben noch keinen Bissen gegessen. Also erstmal Brotzeit gemacht und die Tourenoptionen für den Nachmittag gecheckt.
Die Orizzonti di Gloria haben wir von vorneherein ausgeschlossen, nachdem die Route die letzten Tage gerade eine Social-Media-Ralley durchgemacht hat. Ein Stück unter dem Pass gibt es noch die Wand am Coston d'Averau - wo ich nebem dem klassischen Südkamin ein Topo der Route Ruben Gonzalez finde - eine 8-Seillängen-Sportkletterroute. Es bilden sich zwar schon die ersten größeren Quellwolken über der Marmolada und dem Lagazuoi, aber zur Not ließe sich über die Tour abseilen. Kurz nach 14 Uhr marschieren wir los, dorthin wo wir den Einstieg vermuten. Keine Bohrhaken? Also doch weiter rechts? Fünf Minuten später ist klar: wir müssen schon vorbei sein. Letztendlich sehen wir den ersten Bolt in fünf Meter Höhe rund zehn Meter links von der Stelle wo wir vermutet haben - so ist das mit Tomaten auf den Augen...
Gemütliche Plattenkletterei im fünften Grad bringt uns schnell höher, der erste Wolkenturm ist schon wieder in sich zusammengefallen. In der etwas längeren Seillänge vor der Schlüsselstelle dauert der Vorstieg von Schorsch minimal länger, bevor ich nachsteige drehe ich mich nochmal um. "Ui, da wirds aber schwarz" entfährt es mir. Innerhalb von nur 15 Minuten hat sich über der Marmolada ein gewaltiger Turm gebildet und zieht in unsere Richtung. Wenige Minuten später bin ich bei Schorsch am Stand. "Grumpel" - der erste Donner - das ging aber jetzt schnell. Kurze Materalübergabe und ich starte in die Schlüsselstelle. "Grumpel" - im 10 Sekundentakt schimpft die Wolke zu uns herüber. Von links ziehe ich in an Splitterleisten zum zweiten Haken. "So geht's nicht - ich glaub ich muss es von rechts her probieren" "Grumpel". O.k. - ich habs schon verstanden, ich soll jetzt nicht mehr lange rumprobieren. Also ziehe ich einmal kurz an der Expressschlinge und bin über den Überhang hinweg. Zügig klettere ich hinauf zum Stand und wir spurten die letzten beiden leichten Schrofenlängen zum Ausstieg auf dem Latschenplateau.
Schnell die Seile aufgeschossen, Schuhe gewechselt und nix wie weg. Schorsch wieselt voraus - ausgetretene, aber nicht ausgeschnittene Steige, überwuchert von Latschen, führen uns nach unten. Dann ein Steinmann in einer Grasmulde. Ein kleiner Pfad leitet durch eine Rinne hinab in Richtung Pian Falzarego, nach nicht mal 30 Min. sind wir am Auto, gerade als die ersten dicken Tropfen fallen und der Wind loslegt. Wir werfen das Gerödel ins Auto und flüchten uns in die Bar zum verdienten Tourenabschlussgetränk während vor der Tür das Unwetter losbricht. Was gibt es Gemütlicheres als bei einem Cappuccino in Kletterführern zu blättern, während draußen die Welt untergeht? Was wir erst eine Woche später erfahren sollten: Zwei Bekannte kämpfen gleichzeitig in der Solda an der Marmolada ums Überleben...
Nach einer Stunde haben sich die Elemente beruhigt. Wir fahren hinab nach Caprile, kochen am zentralen Picknickplatz vor der gewaltigen Kulisse der Civetta Nordwestwand unser Abendessen und suchen uns danach einen ruhigen Schlafplatz in Flussnähe.
Der Sonntag verspricht wieder strahlenden Sonnenschein und wir erwarten einiges an Gedränge in den beliebteren Klassikern, weshalb wir uns eine eher ruhige Tour aussuchen. Mit der "Via Priolo" an den Lastoni di Formin - oben am Passo Giau - hab ich noch eine Rechnung offen. Bei meinem letzten Dolomitenurlaub hatte mein damaliger Kletterpartner nach zwei Seillängen die Nase voll und wir seilten wieder ab. Heute läuft es perfekt, wir klettern zügig im Überschlag durch weitgehend cleane Risse im 4. und 5. Grad bis unter die steile Headwall.
Hier setzt ein Quergang an - und obwohl ich diese horizontalen Seillängen aufgrund ihrer Fotogenität und oft spannenden Kletterei besonders gerne mag entfährt mir am Eck dann doch ein "Ui". Was auf dem Topo nach einem Band oder zumindest nach einer schmalen Leiste aussah, entpuppt sich als eine waagrechte Rissspur in gelbem, leicht überhängendem Fels. Aber immerhin stecken ein paar Haken und erlauben eine Vorsteiger- wie nachsteigerfreundliche Absicherung. Allerdings wird mir auch klar, dass die Seillänge dem Robert vor ein paar Jahren nicht gefallen hätte und dass es sicher besser war, bereits unten abzuseilen. Die nächste, einfache Länge steigt der Schorsch vor, dann folgt eine steile Rissverschneidung. An ihrem Ende schlägt das Topo unter einem Dach einen Stand vor. Die Haken sind gut, aber auf Hängestand hab ich so gar keinen Bock, also hänge ich die folgende Schlüsselseillänge gleich noch dran und komme mit gut 50 Meter genau bis zum Köpfelstand unterhalb des Ausstiegs.
Etwas mehr als dreieinhalb Stunden haben wir bis hierher gebraucht - der Tag ist also noch recht jung. Unser Kletterführer schlägt zwei Abstiege vor. Den Weg am Torrione Marcella vorbei kenne ich, der wäre vermutlich der kürzere - also schauen wir uns die Route über die Forcella Rossa di Formin an. Schnell wird klar, dass es sich dabei um einen Riesen-Umweg handelt, der mit Abstieg nicht mehr viel zu tun hat. Dafür sehen wir was von der Gegend. Da soll noch einer sagen, dass wir Kletterer keinen Sinn für die landschaftlichen Schönheiten haben!
Nach gut 2 Stunden sind wir dann doch endlich wieder am Auto und beschließen erstmal ein Stück zu fahren, da uns bis in die Pala noch etwas Gegurke erwartet. Also kurven wir den Passo Giau hinab in Richtung Agordo. Das machen jedoch am Sonntag nachmittag auch noch viele andere - entsprechend zäh gestaltet sich die Angelegenheit. Etwas genervt und durstig steuern wir in Agordo das Cafe am Marktplatz an und kippen uns diverse Getränke intus. Aber wir wollen ja heute noch weiter - also wieder passaufwärts zur Forcella Aurine und über den Passo Cereda ins Val Primiero. Nach zwei warmen Auto- und Klettertagen quartieren wir uns heute ganz banal im Campingplatz Castelpietra ein, um uns eine Dusche zu gönnen. Der zweite Grund dafür: Unsere Essensvorräte weisen bereits Lücken auf und am Sonntag war unterwegs kein geöffnetes Geschäft mehr zu finden. Nudeln und Bier gibts hingegen auch im Minimarket am Zeltplatz.
Der Schorsch mit seinen 58 Lenzen behauptet immer, er braucht mehr Ruhetage als ich und so gestehe ich ihm am Montag einen kletterfreien Tag zu. Der Plan: wir steigen gemütlich hinauf zu Pradidalihütte, chillen den Nachmittag, visieren für den nächsten Tag den Buhlriss an und gehen am Mittwoch über den Passo delle Lede zur Cima Lastei Südwand und klettern die Perla Nera, um anschließend wieder ins Val Canali abzusteigen. Soweit so gut - wir parken das Auto also unterhalb der Malga Canali und queren über die Malga Pradidali zum Hauptweg. In der Mittagssonne schwitzen wir bei dampfigem Wetter hinauf zur Pradidalihütte. Mittagsbrotzeit, viel Trinken, Kaffee, Kuchen - und es ist erst 14 Uhr. Ich beschließe, mir noch ein wenig die Gegend anzusehen. "Ich komm mit" meint der Schorsch - alleine möchte er anscheinend nicht an der Hütte "ruhen".
Der Wetterbericht hat für heute eine Kaltfront angekündigt, wobei in den diversen Vorhersagen um Mittag der Höhepunkt der Störung prognostiziert war. Nach einigen wenigen Tropfen wird es nachmittags schon wieder sonniger. Wars das schon? Am Passo delle Lede wird der Blick frei nach Norden. Hinter der sonnenbeschienenen Marmolada Südwand türmen sich die Wolken über der Sellagruppe und in Richtung Alpenhauptkamm. Wir queren unterhalb des kümmerlichen Restes des ehemals das komplette Plateau überdeckenden Fradusta-Gletschers zum Ostgrat und steigen auf die Cima Fradusta (2939 m). Von hier bietet sich ein genialer Rundblick über die gesamte Palagruppe.
Die Wolkenfront hatte sich die letzte Stunde nicht von der Stelle gerührt, aber jetzt scheint sich was zu tun. Schnell brechen wir auf und steigen entlang des Wanderwegs hinab zum Passo della Fradusta. Jetzt kommt die Kaltfront. Innerhalb einer halben Stunde hat es von weitgehend sonnigem und freundlichem Wetter umgeschlagen. Überall schießen die Quellwolken in die Höhe und von Norden rollt eine dunkle Wand heran. Wir joggen den Wanderweg hinab in den Pradidalikessel. Die letzten fünf Minuten geht es leicht bergauf zur Hütte. Die Sturmböen kommen zum Glück von hinten und fegen uns - durchsetzt mit Graupelkörnern - förmlich hinauf zu unserem Quartier. Ziemlich außer Puste fallen wir in die Gaststube. Sauberer Ruhetag - 1700 Höhenmeter im Aufstieg und zum Abschluss noch ein 400 Höhenmeter Downhill-Race.
Zum Abendessen gibts ein feines Dreigängemenü - Schorsch wählt als Hauptgericht Gulasch mit Polenta, ich entscheide mich für Hühnchenbrust mit Kartoffeln. "Was wollt ihr morgen klettern?" fragen uns zwei Schweizer. "Den Buhlriss" erwidere ich. "Und wann wollt ihr einsteigen?" Fragend sehen Schorsch und ich uns an. "Keine Ahnung - irgendwann nach dem Frühstück werden wir starten". Ein ungläubiger Blick des Schweizers verrät mir, dass sie sich wohl schon einen exakten Zeitplan zurechtgelegt haben. "Wollt ihr nicht zum Gipfel?" Diesmal bin ich es der ungläubig schaut. "Doch freilich - wieso nicht?" Die kleine Konversation zeigt im Nachhinein, dass wir wohl unterschiedliche Vorstellungen von der Kletterroute haben. Für uns soll es eher eine "entspannte" Einklettertour für die Perla Nera werden - die Schweizer scheinen hingegen deutlich mehr Respekt vor der Linie zu haben.
Um viertel nach sieben schälen wir uns am nächsten Tag aus dem Lager. Beim Blick aus dem Fenster sehe ich die beiden Schweizer bereits in der ersten Seillänge. Das eher gestörte Verhältnis vieler Eidgenossen zum morgendlichen Ausschlafen ist uns ja schon auf vielen Bergtouren aufgefallen - aber das ist nun doch etwas übertrieben. "Nunja, zumindest haben wir dann kein Problem mit denen - die werden wir nicht mehr einholen" orakle ich. Erst mal Frühstücken. Nach einer Stunde schauen wir kurz vor die Tür, bevor wir unsere Sachen zusammenpacken. Schorsch staunt: "Die sind erst in der Dritten Seillänge - vielleicht sehen wir die doch wieder".
Wir lassen uns Zeit und schlappen gemütlich über das Geröllfeld hinauf unter die Wand. Ich starte heute, Schorsch packt die zweite Seillänge an. Die Seilmitte ist längst durch, aber kurz vor dem Ende dauert es ewig, bis das Kommando "Stand" kommt. Er hat den zweiten Stand überklettert und zwei Längen zusammengehängt, außerdem macht er ein ziemlich jämmerliches Gesicht. "Mein Darm spinnt heut - mich hat's grad richtig durchgeräumt". Auf dem Geröllband ist ein frisches Steinhäufchen unter dem noch Tempotaschentücher hervorschauen. Jetzt ist mir klar was so lange gedauert hat. "Mir wärs recht, wenn du heute die schwierigen Längen vorsteigen könntest" fährt er fort. Gerne - Hauptsache nicht abseilen.
Die Schlüsselseillänge präsentiert sich gelb und überhängend - sogar drei Normalhaken stecken. Deren Qualität ist allerdings für Dolomitenverhältnisse eher schlecht, so dass ich noch einen Camalot dazu lege. Danach wirds leichter und ich spreize gemütlich hinauf zum nächsten Stand. Diesmal dauerts ewig bis der Schorsch mit dem Nachstieg beginnt. Vermutlich bekommt auch das Band vor dieser Länge jetzt ein Steinhäufchen. Irgendwann startet er dann doch und ist dann bald am Stand. Wir wechseln und ich gehe die wenig einladend erscheinende 5+ an. Der Fels ist aber dann der Hammer. Was fragil aussieht entpuppt sich als feste, steile Henkelkletterei. Unzählige Felszacken und Sanduhren schreien geradezu nach einer Sicherung, aber ich mag mich nicht aus dem Flow reissen und stoppe nur zwei mal um Expressschlingen in die alten Schlaghaken zu hängen.
Zügig kommt mein Seilpartner hinterher und wortlos übernimmt er den nächsten Vorstieg. Als ich ihn am nächsten Stand erreiche klettert dort gerade der Nachsteiger der Schweizer Seilschaft los. Wir haben noch vier Seillängen bis ins leichte Gelände - große Lust zum hinten anzustellen verspüre ich nicht. Nachdem die Schweizer etwas rechts des Risses klettern, steige ich parallel links davon im Riss hinauf zum nächsten Stand und bin gleichzeitig mit dem Nachsteiger dort. "Störts Euch wenn ich gleich weiterklettere?" frag ich. "Nein - ihr seid ja eh schneller" lautet das knappe o.k. und ich spreize die nächsten 30 Meter den Kamin hinauf und erreiche den Stand kurz bevor das Seil aus ist. Die Kletterei ist der Hammer - kaum ein schlechter Griff und Sanduhren und Sicherungsmöglichkeiten im Überfluss.
Schorsch scheint sich etwas erholt zu haben und ist schnell bei mir. Er steigt gleich weiter und erreicht den Stand noch bevor der erste Schweizer bei mir eintrifft. "Na das war doch mal ein elegantes Überholmanöver - wenn das immer so glatt ginge" freuen wir uns. Nach der nächsten Seillänge sind wir am Ende der Schwierigkeiten. Ich wechsle auf die Halbschuhe aber wir sichern erstmal noch weiter, da mein Freund immer wieder von plötzlichen Bauchkrämpfen geplagt wird. Er klettert die letzte 3+ Stelle hinauf. Dann ist wieder Funkstille. Als ich endlich nachkommen darf, empfängt mich am Stand ein beißender Gestank - das Topo liegt in Fetzen und deutlich benutzt neben dem Quell des Übels. "Hast du noch Taschentücher?" ist die erste Frage - zum Glück finde ich noch ein Päckchen im Rucksack.
"Jetzt gehts a bissl besser!" meint er erleichtert. Wir packen das Seil weg, steigen über die letzten kurzen Kletterstellen hinauf ins leichte Gelände und folgen den roten Markierungen bis in die Scharte vor dem Gipfel. Noch wenige Meter 2er Glände und wir stehen auf der Cima Canali (2897 m). Ein Traumberg nach einer Traumkletterei bei Traumwetter - Schorsch's Alptraum kommentier ich mal lieber nicht mehr. Das Gipfelbuch verdient seinen Namen nicht, aber wir hinterlassen unseren Kommentar in der Loseblattsammlung bevor wir uns an den Abstieg machen.
Dieser ist sehr gut mit roten Markierungen und vielen Steinmännern gekennzeichnet. Schöner fester Fels führt in kurzweiliger Kraxelei über den Südgipfel drüber und hinein in den großen Trichter, der sich nach unten hin zu einer gewaltigen Geröllrinne verjüngt. Wir kommen schnell voran. Einmal nutzen wir eine der zahlreichen Abseilstellen, merken aber sogleich, dass dies Zeit kostet und in dem gestuften Gelände beim Seil abziehen unweigerlich zu Steinschlag führt, so dass wir den Strick wieder wegpacken. Erst weit unten in der Geröllrinne - wo der Fels langsam schlechter und schuttbedeckter wird - kommt eine zwingende Abseilstelle, danach erreichen wir bald die Hütte. Obwohl mein Seilpartner offensichtlich schon wieder auf dem aufsteigenden Ast ist, sind wir uns einig, die Perla Nera zu canceln. Der Wunsch nach einer Dusche und frischer Kleidung ist verständlich und seine Energiereserven dürften nach diesem Tag auch recht dürftig sein. Also steigen wir am Nachmittag zum Auto ab und stellen unser Zelt erneut in Castelpietra auf.
Eine Dusche, ein Abendessen und ein Bier können nach einer Darmverstimmung Wunder bewirken - und so planen wir wenige Stunden danach bereits wieder für den nächsten Tag. Der Wetterbericht verspricht noch eineinhalb gute Tage, die es zu nutzen gilt. Damit beginnt aber bereits wieder die Heimreise und wie wir uns bei der Anreise Stück für Stück nach Süden gearbeitet haben, so soll es auch in Etappen wieder zurück gehen.
Wir wechseln daher am Mittwoch über den Rollepass auf die Nordwestseite der Pala und fassen die Westwand des Monte Mulaz ins Auge. Dort führt ein grauer Pfeiler mit kompaktem Plattenfels zu dem aussichtsreichen Gipfel. Eine kurze Stichstraße ermöglicht uns gegen 6 € Gebühr die Zufahrt ins Val Venegia - einem der idyllischsten Flecken der gesamten Dolomiten (und das soll was heissen). Weite flache Almböden, ein kristallklarer Bach, Kühe, Pferde und Hochlandrinder - umrahmt von den gewaltigen Felswänden der nördlichen Palagruppe. Schon der Zustieg alleine war die Fahrt hierher wert. Nach den idyllischen Wiesen warten zwar dann noch steiles Schrofengelände und ein paar ausgesetzte Stellen im 2. und 3. Grad. Dafür stehen wir bereits 800 m über dem Talkessel als wir den Einstieg des Grauen Pfeilers (Pilastro Grigio) erreichen.
Gleich auf den ersten Metern wird klar, dass hier ein anderer Wind weht als im Buhlriss. War gestern jede Unebenheit im Fels ein Riesenhenkel, so erwarten uns heute Platten. "Des is ja ein Fels wie im Koasa" entfährt es mir, als ich im 5er Riss der ersten Seillänge versuche meinen Kletterstil umzustellen. Rauhe Platten mit wenigen Löchern und einigen wenigen Rissen erinnern eher an die Marmolada als an die Pala. Die zweite Seillänge hat es dann gleich in sich. 6- sagt das Topo. Wenn dort 7- stehen würde, wärs klar wo ich raufklettern würde - aber so frage ich mich schon ob ich richtig bin. Es bleibt aber kein anderer Weg und ich gehe es an. Zwei Normalhaken stecken, dann muss man 4-5 Meter die kompakte Wand hinaufklettern, ohne weitere Sicherungsmöglichkeit. Überraschenderweise kommt immer genau dort wo man es braucht ein guter Griff und die Stelle löst sich besser auf als erwartet. Trotzdem wärs im Kaiser ein glatter Sechser.
Die nächste Seillänge ist die Schlüsselseillänge, die das Topo mit glatt 6 und "expo" ankündigt. Schorsch läßt mir den Vortritt und ich spreize die Verschneidung hinauf bis zu einem Überhang, wo zwei Haken stecken. Im folgenden Piazriss versenke ich dann zwei oder drei Friends und komme ordentlich ins Schnaufen bis ich leichteres Gelände erreiche. Naja überaus "expo" wars zwar nicht aber 7- wäre jetzt auch nicht übertrieben. Vielleicht wenn man die 8 Meter ohne Pause hinauf piazt und sich die Kraft für das Legen der Cams spart, dann passt 6 und "expo" - also einigen wir uns auf 6+.
Damit ist aber auch schon das Ende der Schwierigkeiten erreicht. Die nächsten Seillängen bieten noch plattiges Gelände im 4. bis unteren 5. Grad zum Selberabsichern mit teils großem Spielraum bei der Wegwahl. Dann ändert sich der Charakter schlagartig. Die Plattenzone ist zu Ende und geht in löchrigen Palafels über, mit Sanduhren und Köpfeln wie wir es kennen. So erreichen wir kurz nach halb vier den Ausstieg und nach einer gemütlichen Pause wandern wir hinüber zum Gipfel des Monte Mulaz mit seiner momumentalen Gipfelglocke.
Gegenüber dem kurzweiligen Abstieg von der Cima Canali geht es vom Monte Mulaz stinkfad hinab - eineinhalb Stunden auf einem breiten Wanderweg, dann unten im Tal noch eine knappe halbe Stunde die Forststraße hinaus zum Parkplatz. Immerhin ist die Landschaft grandios - und wenn man schon nicht auf den Weg schauen muss, dann kann man wenigstens die Berge rundherum bewundern. Letztendlich ist es dann doch schon sechs Uhr abends bis wir am Auto sind - wie die Zeit vergeht. Wir beschließen, den Urlaub am nächsten Tag an der Sella ausklingen zu lassen. Bei der Fahrt zu unserem Schlafplatz machen wir noch einen genüsslichen Stop in einer Pizzeria, da wir heute keine Lust mehr zum Kochen haben.
Die Nacht an der Sellapassstraße ist unruhig. Bereits ab 4 Uhr morgen rollen die Betonlaster und Schwertransporte. Nachdem am gestrigen Tag die Straße gesperrt war, müssen sie wohl einiges aufholen. Die sowieso schon vollkommen verhunzte Landschaft im Grödnertal bekommt weiteren Zuwachs an häßlichen Hotelburgen und monströsen Seilbahnstationen. Wie kann man seine Heimat nur so kaputt machen?
Der Schorsch hat anscheinend schlecht geschlafen und es kostet mich einiges an Überredung, ihn für die "Messner" am Zweiten Sellaturm zu begeistern. Letztendlich willigt er unter der Bedingung ein, dass ich mal wieder den Vorstieg der schwierigen Seillängen übernehme. Nach einem gemütlichen Frühstück in der Sonne und dem Morgenkaffee im Sellajochhaus spazieren wir den kurzen Zustieg bis unter die Wand. "Na bravo - da gehts ja zua wia am Stachus". Mehrere Seilschaften sind bereits in der Wand - in unserer Route eine Zweier und eine Dreierseilschaft - an unsere Fersen heften sich ebenfalls noch zwei Italiener.
Wir haben ein Topo aus dem sog. "Topoguide" - einem alpinen Auswahlführer, das vom Routenverlauf her ganz gut passt, nur die Schwierigkeiten stimmen nicht mit der Realität überein und sind mehr oder weniger deutlich zu hoch angesetzt. Der Einstiegsriss schaut anstrengend aus. Einige Meter links lacht mich eine Lochplatte an, über die ich einsteige und dann nach rechts zum Ende des Risses quere. Schnell bin ich am Stand, wo gerade die Nachsteigerinnen der Dreierseilschaft wegklettern. Das war ja schon mal viel leichter als gedacht - mehr als 6- für die ersten beiden Züge war das auf keinen Fall - und Sicherungen hätten sich alle Meter legen lassen wenn man gewollt hätte. Der folgende Quergang ist nur 5- und den traut sich der Schorsch auch zu, er muss aber am Stand bei den beiden Mädels unserer vorauskletternden Seilschaft länger warten bis er mich nachsichern kann.
Dann bin ich wieder mit Vorsteigen dran. Kurze Querung, zwei zusammengebundene Normalhaken, dann einige Meter ungesichert rechts aufwärts - schon wieder zwei Haken. Gut - Sechs minus kann man dafür vielleicht schon ausgeben, aber dann wirds schon wieder leichter und ich klettere zu den zwei Damen an den Stand. Da ich ihnen nicht zu nahe kommen möchte quere ich 4 Meter nach links in die gelbe Nische und baue meinen Standplatz an den dortigen Sanduhren. Als Schorsch nachgestiegen ist, wechseln wir und ich übernehme auch die nächste Seillänge. Auf halber Strecke ist die Orientierung etwas unklar. Mein Topo meint gerade hoch, die beiden anderen Seilschaften sind weit rechts drüben. Da fängt die erste Seilschaft mit dem zurückseilen an. "Stimmt das wo ihr da seid?" rufe ich rüber. "Nein - wir sind zu weit rechts - du musst dort links zu der großen Sanduhr".
Jetzt aber schnell! Gleich bin ich dort, beziehe Stand und sichere den Schorsch nach. Die abseilende Seilschaft kommt auch zu uns, die Dreierseilschaft reiht sich ganz hinten ein. Ich mache mich schon wieder an den Vorstieg - so schnell hat man die Pole-Position: einmal rechts antäuschen und links vorbeiklettern. Eine kurze Rechtsquerung, dann immer rechts vom Wasserstreifen über steilen Henkelfels hinauf zum Stand. Sichern kann man zwar hier nicht viel, aber die Griffe sind so riesig, dass das auch nicht nötig ist. Nur ein gutes Auge für die richtige Linie hilft sehr, dass aus 5 oder 5+ nicht doch ein 6er wird. Der Rest ist nur noch Formsache und kurz nach Mittag sind wir auf dem Ringband. Der Abstieg ist eine mega-ausgetretene Autobahn mit einigen leichten, speckigen Abkletterstellen - so dass die Route im Gesamtpaket die gemütlichste Tour des ganzen Urlaubs wird.