Sonnenwochenende im Sellrain
Fast drei Jahre ist es nun her, dass ich mich mit einigen Leuten aus meinem damaligen virtuellen Netzwerk zu einem verlängerten Skitourenwochenende am Langtaufererhof getroffen hatte. Das Ziel war es eigentlich, sich einmal in der Realität kennenzulernen und schöne Touren miteinander zu unternehmen. Wie es aber oft so ist, sind aus diesem Treffen zwei spannende Projekte hervorgegangen: Zum einen haben wir auf Facebook eine Lawinengruppe gegründet, die inzwischen (Stand 01/2022) über 14.000 Mitglieder hat. Zum anderen ist uns bei der Diskussion aufgefallen, dass die Lawinenwarnung in den verschiedenen Alpenregionen in Kommunikation und Qualität sehr unterschiedlich ist und dass für alpenweit mobile Wintersportler noch Optimierungsbedarf besteht. Daraufhin entstand die IFALP. Natürlich bin ich mit den meisten Akteuren dieser beiden Projekte auch weiterhin in regelmäßigem Kontakt, per E-Mail, per Chat oder über Telekonferenzen. Allerdings bestand seit langem der Wunsch, sich mal wieder draußen in den Bergen zu sehen. Die größte Hürde war hierfür seit Frühjahr 2020 - Corona.
Jetzt Anfang Januar 2022 scheint sich eine Möglichkeit zu bieten, in kleinerer Gruppe ein Treffen organisieren zu können. Die Grenzen sind offen, zumindest für vollständig geimpfte Personen gibt es keine größeren Reisehindernisse. Die erst Überlegung ist, wieder nach Langtaufers zu fahren, aber die Reise dorthin ist dann doch etwas weiter und die Schneelage ist auch nicht besser als anderswo. "Ich kann höchstens kurz dazukommen" schreibt Lukas - der daheim mit Bauernhof und Gasthaus im Dauereinsatz ist. Auch Steffi ist an dem Wochenende nicht im Lande und würde es - wenn überhaupt nur am Sonntag schaffen uns zu treffen, falls wir in der Nähe von Innsbruck sind. Also brauchen wir eine Unterkunft für ein Wochenende. Zumindest im Gasthaus vom Lukas ist kein Platz. Ich überlege, ob wir für ein ungestörtes Treffen nach einem Ferienhaus in Österreich suchen sollen. Letztendlich buchen wir dann im Alpengasthaus Praxmar. Die meisten wollen am Freitag anreisen, die Locals übernachten zu Hause und wollen dann vor Ort hinzukommen.
"Mir gehts nicht gut und mein Corona-Schnelltest heute morgen war unklar. Ich mach jetzt noch einen PCR-Test und komme dann vielleicht nach" sagt Claus am Freitagmorgen am Telefon. Na super, eigentlich wollte ich bei ihm mitfahren und wir hätten dann Timi (aus der Lawinengruppe) und Günter (Skitourenguru) am Bahnhof in Innsbruck aufgesammelt. Ich fahre zwar ungerne alleine mit dem Auto bis in Sellrain, aber so kurzfristig ist das Zugticket ziemlich teuer und abends fährt kein Bus mehr hinauf nach Praxmar. Also daheim alles umplanen. Dann bekommen die Kinder am Wochenende eben kein Taxi zum Skikurs-Bus und müssen radeln. Kurz darauf setze ich mich ins Auto, Timi und Günter treffe in Innsbruck. Eine gute halbe Stunde später checken wir in Praxmar ein. Nachdem sich Chris (Tourenwelt - unser IFALP-Webmaster) noch hinzugesellt hat, ratschen und diskutieren wir, bis wir irgendwann aus dem Gastraum "geworfen" werden.
Samstagmorgen: kristallklarer Himmel und trotzdem nur "milde" -5 Grad im "Eiskeller" Lisens. Unser Ziel ist heute der Hohe Seblaskogel. Die Schneelage im Sellrain ist eher mager, vor allem im Vergleich zum Vorjahr. Eigentlich aber recht typisch für Frühwinter, mit steinigen, abgeblasenen Flanken und ausreichender Schneemenge in den Talböden und Mulden. Die Lawinenlage ist ziemlich günstig. Vor allem wird älterer Triebschnee in steilen Schattenhängen als Hauptgefahrenstelle genannt. Einem traumhaften Bergtag also steht nichts entgegen. In angeregter Unterhaltung vertieft schlappen wir durchs Längental aufwärts. "Wie wärs mal mit einer Trinkpause?" wirft Timi ein. Wir drei "älteren Herren" haben uns schon so an unsere kamelähnliche Flüssigkeitsaufnahme gewöhnt, dass wir nach gut eineinhalb Stunden noch kein Durstgefühl verspüren. Gut wenn wir ab und zu daran erinnert werden.
Endlich sind wir in der Sonne und kommen zügig in die Mulde mit dem ehemaligen "Grüne-Tatzen-Ferner" von dem die rasante Erderwärmung nur noch ein winziges Ganzjahres-Eisfeld übriggelassen hat, das in ein paar Jahren ganz verschwunden sein wird. "Puh, so ein Geschnaufe" - jammere ich am Skidepot. Ohne Akklimatisierung merken wir Flachlandbewohner auf 3200 m Meereshöhe die ungewohnt dünne Luft bereits. Noch ein paar Meter Schneestapfen, dann stehen wir am Gipfel. Der einzige andere Tourengeher, macht sich gerade an den Abstieg und es ist ungewohnt einsam auf einem der höchsten Sellrainberge für so einen perfekten Wochenendtag. Nach ausgiebiger Gipfelrast machen wir uns an den Abstieg und beginnen mit der Abfahrt. Trotz der dürftigen Schneehöhen hält sich das Risiko für Steinkontakt in Grenzen und wir schwingen fröhlich ins Tal. In der zweiten Hälfte bemerken wir immer wieder eine absteigende Fußspur. Im Talboden angekommen klärt sich dieses Rätsel und wir überholen den Pechvogel mit seinen Ski am Rucksack. Der Vorderbacken seiner Superlight Dynafit-Bindung war in zwei Teile zerbrochen und nicht mehr reparierbar.
Am Abend treffen wir uns alle in Praxmar wieder, wo sich Kristian noch hinzugesellt. Claus ruft an, dass der Test zwar negativ war, er aber trotzdem so erkältet ist, dass er nicht kommt. Lukas und Steffi schaffen es zeitlich leider nicht. Wir diskutieren also nur zu fünft, unter anderem, was sich seit unserer IFALP-Initiative in Sachen Lawinenwarnung getan hat. Insbesondere die Kommunikation und Darstellung der Lageberichte wurde verbessert und vereinheitlicht. Inzwischen zeigen die meisten Warndienste der Ostalpen auf ihren Websites Übersichtskarten an, auf der auch die Warnregionen der benachbarten Regionen sichtbar und anklickbar sind. Auch wurden viele große Warnregionen in kleinere, flexiblere Areale aufgeteilt. Nichtsdestotrotz identifizieren wir weiterhin Uneinheitlichkeiten, die vor allem beim automatischen Auslesen der Daten zum Beispiel für Apps wie Skitourenguru oder Snowsafe zu Tage treten. Da sind zum einen die unterschiedlichen Ausgabezeitpunkte und verschiedenen zeitlichen Gültigkeiten der Bulletins. Auch Logik, Kommunikation und Darstellung der Hauptgefahrenstellen (Kernzone) in Kombination mit dem Lawinenproblem werden sehr unterschiedlich gehandhabt. Dazu gleicht das Aufspüren von hilfreichen Messdaten der Wetterstationen selbst für fortgeschrittene Tourengeher oft der Suche nach der Nadel im Heuhaufen.
Am Sonntag zeigt sich das Wetter erneut von seiner schönsten Seite. Der Top-Gebietskenner Lukas meint, an der Steintalspitze könnten wir ausreichend und guten Schnee finden. Der kleine Parkplatz in Haggen ist kurz nach 9 Uhr schon gut gefüllt. Tatsächlich biegen oberhalb der "Ersten Zwing" viele Leute nach rechts ins Steintal ab, mehr sogar als geradeaus zum eigentlichen Modeziel in diesem Tal weitergehen - dem Zwieselbacher Roßkogel. In munterer Unterhaltung marschieren wir hinauf, zuletzt in einigen Spitzkehren bis zum Skidepot wo wir kurz auf das leidliche Corona-Thema kommen. "Endlich war jetzt mal fünf Minuten Ruhe - wir sind ja hier am Berg, Mensch!" motzt uns dort irgend so ein Affe an, der auf den letzten Metern hinter uns war und sich scheinbar an unserer Unterhaltung gestört hat. "Dann überhol' doch oder halte Abstand - Du musst ja nicht zuhören!" blaffe ich zurück. So ein Tonfall ist mir eigentlich fremd, aber manche wollen es anscheinend nicht anders.
In kurzer einfacher Kraxelei geht's zum Gipfel, wo es heute aber deutlich windiger und ungemütlicher ist als am Vortag. So machen wir uns bald an die Abfahrt und finden tatsächlich noch einige schöne Streifen unverspurten Pulverschnees. Allerdings bleibt die Handbremse ein wenig angezogen, weil man überall mehr oder weniger schlecht verschneite Steine sieht. Aber wir kommen alle ohne Schäden bis zur "Zwing", die sich gut abrutschen lässt. Zwischendurch sehen wir einen Hubschrauber im unteren Teil des Kraspestales landen und wieder wegfliegen. Als wir dort ankommen wird uns der Grund des Einsatzes klar. Ein Eiskletterer ist in der sehr steilen, harten Flanke unter dem Eisfall bei der Abfahrt mit Ski gestürzt, abgerutscht und ist gegen mehrere Felsblöcke geprallt, wobei er sich schwer verletzt hat.
Auf der Heimfahrt machen wir noch einen Stop im Gasthaus Ruetz in St. Sigmund und locken Lukas für ein paar Minuten aus der Küche. Im Anschluss verabschieden wir uns - Günter fährt mit Kristian zum Bahnhof Ötztal, von wo er mit dem Zug nach Zürich weiterfährt und ich nehme Timi bis Kufstein mit, wo sie die lange Reise in die Steiermark nach Graz antritt. Auch wenn es diesesmal nicht für alle geklappt hat, dabei zu sein, war es wieder einmal ein sehr inspirierendes Treffen. Selbst der rein kommunikative Anteil daran ist nicht mal ansatzweise durch Videokonferenzen zu ersetzen, das Unterwegssein draußen in der Sonne und im Schnee schon gleich gar nicht.