Südtirol statt Steiermark
Manche Unternehmungen haben schon Tradition - eine davon ist das "Lawinenentscheidungstraining", eine Skidurchquerung, die ich für den DAV Bergbund Rosenheim jährlich anbiete. Wie immer entscheiden wir kurzfristig beim Planungsabend, wenige Tage vor Kursbeginn, wohin es gehen soll. Die Wahl fällt diesmal auf die Niederen Tauern in der Steiermark. Dort haben wir uns eine nette Vier-Tages-Route von Schladming bis in den Lungau ausgesucht. "Kannst du ein Quartier für die erste Nacht buchen" beauftrage ich Micha. Sie verspricht gleich am nächsten Tag mit dem Tourismusverband zu telefonieren. "Alles ausgebucht" ist die frustrierte Meldung, die ich am nächsten Tag von ihr bekomme. Aber was predige ich meinen Kursteilnehmern immer: "Flexibilität bei der Tourenplanung ist das A und O für sichere Skitouren". Wer für ungünstige Situationen einen Plan B parat hat, lebt länger oder hat zumindest mehr Spaß auf Skitour.
Unser Plan B lautet: Südtirol! Eigentlich ist dort ja sowieso alles besser: die Schneelage, das Wetter und der Kaffee. Dazu sind die Berge höher, die Menschen freundlicher, der Rotwein günstiger, der öffentliche Nahverkehr flächendeckender. Letzteres gilt leider nicht an der Nahtstelle zwischen Nordtirol und Südtirol. Ursprünglich war fest geplant, mit dem Zug anzureisen. Der erste Schnellzug erreicht den Brenner erst gegen 10 Uhr und dann gibt es keinen Anschlusszug nach Gossensass. 45 Minuten Aufenthalt sind es uns dann doch nicht wert, vor allem weil wir zu fünft in ein Auto passen. Außerdem sind warme Temperaturen vorhergesagt, die einen früheren Aufbruch erfordern.
Um kurz vor sechs Uhr morgens radle ich mit Ski am Rucksack zum Treffpunkt nach Raubling. Wie fast immer, darf ich mir von den Autofahrern dafür erstaunte bis spöttische Kommentare anhören. Ist doch immer wieder interessant, dass Leute, die klaglos auf Ski ganze Gebirgszüge durchstreifen, oft noch bei echtem Mistwetter, eine lächerliche Radlstrecke von fünf Kilometern unvorstellbar oder zumindest ungewöhnlich finden. Zwei Stunden später parkt unser Fahrer Berni sein Fahrzeug am Bahnhof in Gossensass - unserem Ausgangspunkt.
Unser Ziel ist eine dreitägige Rundtour in den südlichen Stubaier Alpen mit einem Reservetag. "Immerhin hat es Schnee" stelle ich beruhigt fest. An der Wiese am Ortsrand schnallen wir die Ski an und schlappen an den schattigen Waldrand. Dort ist es aber schon wieder vorbei mit der winterlichen Herrlichkeit. Unter den Bäumen ist es komplett aper und wir tragen 20 Minuten durch den Wald hinauf zu einer Forststraße. Auf dieser liegt ausreichend Schnee, um auf ihr mit Ski ins Valmingtal aufzusteigen. Dort sieht es dann tatsächlich aus, wie man es sich im Winter vorstellt: eine massive Altschneedecke von mehr als einem Meter und oben drauf 20 cm Pulverschnee. Micha spurt fleißig bis zur tief verschneiten Vallmingalm, wobei plötzlich wie aus dem Nichts eine Skispur auftaucht. Ein Blick auf die Karte klärt das Rätsel: "Die sind anscheinend aus dem Skigebiet vom Roßkopf runtergekommen" mutmaße ich.
Vor uns baut sich der makellose Skihang des Telfer Weißen auf. "Dort sind die zwei" meldet Andi. Tatsächlich spuren unsere Vorgänger unverdrossen in den doch recht steilen und mit viel Triebschnee beladenen Gipfelhang hinein. Bei der Betrachtung aus der Ferne sagt mir mein Bauchgefühl: "Großer Nordosthang, 35 Grad, Anzeichen für Triebschneeablagerungen, Lawinenwarnstufe 3 - recht mutig die beiden." Vor Ort erkennen wir, dass sie zwar einen leichten Rücken im rechten Teil Flanke ausnutzen, queren aber doch erstmal das komplette Einzugsgebiet des konvexen Hanges. Etwas weiter rechts hätte man eine durchaus sicherere Spur anlegen können. Ein typischer Fall, wo je nach Ausgang hinterher immer jemand schlaue Töne spucken kann. Wäre ein Schneebrett abgegangen, hätte man in einschlägigen Foren lesen können: "Das war doch eine klare Sache - der Hang musste doch abgehen". Nachdem alles gut gegangen ist hört man hingegen von den forschen Tourengehern in der Regel eher: "Hat doch alles gepasst. Wir können das schon einschätzen". Sicher ist nur: wenn ein Hang abgegangen ist, weiß man, das er lawinengefährlich war.
Wir diskutieren noch kurz, ob wir ebenfalls versuchen sollten, den Gipfel zu erreichen. Letztendlich ist kein einziger Teilnehmer dafür und es lässt sich auch keiner anstacheln, überhaupt drüber nachzudenken, ob wir die Flanke riskieren können. Besonders aus Zeitgründen macht das Sinn, da der Tag schon etwas fortgeschritten ist. Dafür müssen wir jetzt erst einmal die Einfahrt in die Südflanke suchen. Auf den zweiten Anlauf finden wir eine gute Stelle und bauen um auf Abfahrt. Der Berni ist jetzt mit der Führung dran, überlässt mir aber im ersten Steilstück den Vortritt. Hier im 45 Grad steilen Südhang ist kaum Triebschnee. Sonne und kühler Wind haben den Neuschnee der letzten Tage bereits gut an den Altschnee "hingepappt". Ich rutsche vorsichtig über den verschneiten Stacheldraht hinweg und quere zwischen ein paar Felsen hinaus in den weiten, weniger steilen Hang. "Hat schon eine Kruste, aber geht schon" rufe ich meinen Kameraden zu und ziehe in weiten Schwüngen hinab zu einer Verflachung, die wir als Sammelpunkt vereinbart haben. Im weiteren Verlauf des riesigen Hanges kurven wir in anfangs pappigem, zuletzt schon fast firnigem Schnee hinab zu einer kleinen Hütte, wo es eine verspätete Mittagspause gibt.
Bald verlassen wir die anderen Abfahrtspuren, die auf dem Forstweg weit nach Osten bis Obertelfes führen, weil unser Quartier bei Mareit direkt in unserer Falllinie liegt. Leider sind die Wiesen hinab nach Kaltenbrunn schon stark ausgeapert, so dass wir mehrmals die Ski abschnallen oder kurze Stücke übers Gras zum nächsten Schneefleck rutschen müssen. An der Fahrstraße auf etwa 1300 m Höhe schnallen wir die Ski an den Rucksack, wandern 300 Hm ins Dorf hinab und steigen dann nochmal 10 Minuten - am Schloss Wolfsthurn vorbei - hinauf zum Pulvererhof, unserem Quartier für diese Nacht. "Wann fährt denn morgen ein Bus in den Talschluss bis zum Bergbaumuseum" frage ich die italienische Wirtin, die nicht besonders gut Deutsch spricht. "Museum hat geschlossen" sagt sie und ich folgere daraus, sie meine, es fährt deshalb kein Bus. "Können Sie uns dann ein Taxi rufen?" "Ja kein Problem". Somit wäre auch der Transfer für den nächsten Tag geklärt. Theoretisch könnte man dorthin auch mit Ski aufsteigen, aber für die rund sieben Kilometer und fast 400 Höhenmeter müssten wir mindestens eineinhalb Stunden zusätzlich rechnen. Nachdem für den nächsten Tag ohnehin die längste Etappe auf dem Programm steht, wäre das etwas zu viel des Guten. Mit unserer Unterkunft sind wir sehr zufrieden. Angesichts des Buchungsfiaskos in der Steiermark bietet uns der Pulvererhof mit einem Halbpensionspreis von 45 Euro ein gutes Preis-Leistungsverhältnis.
Am Morgen nach dem Frühstück lassen wir uns wie vereinbart ein Taxi rufen. Während wir vor dem Eingang unsere Sachen zusammenpacken fährt tatsächlich ein Linienbus vorbei und hält auch noch an der Straße vor dem Gasthof. Wir reagieren aber zu langsam, um ihn noch zu erwischen, weshalb wir mit 30 Euro das lokale Taxigewerbe unterstützen. Der Talschluss des Ridnauntales ist ein irgendwie stranger Ort. Am Ende der großen Hochebene befindet sich der Ort Maiern. Er wird dominiert vom Hotel Schneeberg - einem riesigen Hotelkomplex mit 900 Betten, drei Restaurants und jedem Schnickschnack, den man sich nur denken kann. Lustig: Bei Booking.com wird dieser überdimensionierte Schuppen als "mitten in den Dolomiten" gelegen angepriesen. Da stellt sich die Frage: "Sind wir nicht alle irgendwie mitten in den Dolomiten?" Bei der Quartiersuche im Ridnaun kommt man an den vielfältigen Anzeigen des Hotels ja nicht vorbei und die Lage für unsere Durchquerung wäre ideal gewesen. Allerdings kann man dort nicht einfach nur übernachten und essen, sondern muss alle möglichen Inklusivleistungen mitbezahlen, weshalb man den dreifachen Preis bezahlt wie am Pulvererhof. Ein Stück hinter dieser Prunkanlage gibt es dann das Kontrastprogramm: hier zeugen alte Bergbauanlagen von der Geschichte dieses Tales, wo über Jahrhunderte viele Kumpel ihr hartes Leben für einen kargen Lohn verbracht haben.
Im Angesicht dieser zu einem Bergbaumuseum restaurierten Gebäude schnallen wir unsere Ski an und marschieren los, hinein in das langgezogene Lazacher Tal. An der Poschhütte beratschlagen wir während einer Pause über den besten Weiterweg. Der Übergang über die Schneebergscharte sieht nicht ganz unkritisch aus - steiles, oben eingeblasenes Gelände mit einem bereits nicht ganz trivialem Zustieg. Attraktiver erscheint uns die benachbarte Kaindlscharte, die über ein schönes Kar ein wenig südlich davon erreicht wird. Am Zustieg dorthin legen wir einen Stopp ein und machen Schneedeckenuntersuchungen und Stabilitätstests als Ausbildungseinheit. Danach zieht Andi eine echte Profispur mit wenigen Spitzkehren hinauf in die Scharte und wird von allen zu Recht dafür gelobt. "Schaun wir dass wir runterkommen" mahne ich zur Eile. Einerseits hat uns die Schaufelaktion Zeit gekostet und zum anderen ziehen tief hängende Wolken heran, die uns wohl bald die Sicht vernebeln werden. Julia sucht sich den Durchschlupf durch das erste, steilere und windverblasene Stück, danach folgen wir ihr in herrlichem Pulverschnee hinab zur verlassenen Bergbausiedung St. Martin.
Noch während wir wieder auffellen, verschwindet die Sonne hinter den Wolken und kurz nach der Querung in den Karlboden verschwinden auch wir im Nebel. Julia spurt tapfer im whiteout unter die Karlscharte. Als wir gerade anfangen uns von der schlechten Sicht verunsichern zu lassen, reisst es kurz auf und wir können problemlos auf dem idealen Weg in die Scharte aufsteigen. Das wars dann aber schon wieder mit guter Sicht. Zum Glück führen auf der Nordseite frische Abfahrtsspuren ins Timmelstal, denen wir folgen können bis wir unterhalb der Wolkendecke sind. Der Rest ist nur noch Formsache. Zum einen war Julia erst vor wenigen Wochen hier und kennt die Abfahrt, zum anderen ist der Weg im unteren Teil pistenmäßig eingefahren und kaum zu verfehlen. An der Timmelsbrücke angekommen, fehlen uns noch zwei Kilometer bis zu unserer Unterkunft am Gasthaus Schönau. Die erste Hälfte kann man noch gut am Straßenrand mit Ski entlangrutschen, die letzten 10 Minuten marschieren wir entlang der aperen Straße.
Im 2015 neu gebauten Gasthaus werden wir vom Wirt Stefan sogleich herzlich willkommen geheißen. Außer uns sind nur vier anderer Gäste anwesend. Das Essen ist hervorragend und üppig, die Zimmer modern und nobel. Der Preis ist dafür angemessen, aber nicht billig. Es hätte sogar ein günstiges Lager gegeben, aber das hab ich erst kurz vor der Abreise erfahren. Das erwartet man heute ja schon fast nicht mehr bei all den hochgezüchteten Hütten und Unterkünften. Mir wärs wurscht gewesen und ich brauche nicht mehr Geld ausgeben für etwas, wovon ich im Tiefschlaf sowieso nichts mitkriege, aber wenn man mit einer Gruppe unterwegs ist, muss man sich manchmal anpassen. Nachdem dieser lange Tourentag bei dem ein oder anderen Teilnehmer doch merkliche Spuren hinterlassen hat, beschließen wir zwei Nächte in dem Gasthaus zu bleiben und den nächsten Tag etwas geruhsamer anzugehen. "Dann machen wir eine Tagestour mit leichtem Rucksack" schlägt Berni vor, woraufhin keine Einwände kommen.
"Ich hätte gerne noch einen Cappuccino" bestellt Micha beim Frühstück nach. Heute pressiert es uns nicht. Das Wetter ist bestens mit klarem Himmel und trockener, etwas kühlerer Luft als die Tage zuvor. Eigentlich hatten wir gestern bei der Tourenplanung eine Halbtagstour zum Hechenberg angepeilt. Als wir aber an der Timmelsalm stehen reut mich der geniale Tag etwas für diesen "Mugel" im Angesicht der zahlreichen richtigen Skiberge. "Des schaut ja super aus, wo die raufgehen. Weißt du die hin wollen?" frage ich unsere Gebietskennerin Julia. "Da gehts zum Kitzkogel" weiß sie. Ein kurzer Blick auf die Karte und ich schlage eine Planänderung vor. Heute ist einer der Tage an denen der Plan B nicht aufgrund der Lawinenlage, sondern wegen des Spaßfaktors herhalten muss. Der Kursanteil an diesem Tag bleibt wegen der sehr günstigen Bedingungen und eher wenig konkreten Beispielen überschaubar.
Am Abend kommen wir mit Tobi ins Gespräch, einem einzelnen Gast am Nebentisch, der sich für längere Zeit einquartiert hat und abwechselnd Skitouren geht und an seinem Laptop arbeitet. Es stellt sich heraus, dass er nach dem Verkauf einer Firma finanziell unabhängig ist und mehr oder weniger ehrenamtlich an der Influencemap mitarbeitet. Dabei handelt es sich um ein Projekt, das Lobbyarbeit großer Konzerne aufdecken möchte und vor allem der Torpedierung des Klimaschutzes durch zahlreiche finanzkräftige Interessengruppen etwas entgegensetzen möchte. Es entspinnt sich eine lebhafte Diskussion über die Klimaerwärmung, über Maßnahmen die nötig wären, die Erhitzung zu bremsen und welche Strukturen gerade verhindern, dass wirkungsvoller Klimaschutz in Angriff genommen werden kann. Der Tobi ist dahingehend ziemlich gut informiert. Für mich erzählt er in der Sache zwar nicht Neues, da ich mich selbst seit Jahren recht intensiv mit dem Thema beschäftige. Trotzdem erfahre ich das eine oder andere interessante Detail, das ich so noch nicht gehört hatte. Meine Begleiter erfahren aber anscheinend eine Sichtweise, die sie so konsequent bisher noch nicht erlebt hatten. Es ist interessant zu beobachten, wie eine Diskussion im persönlichen Gegenüber komplett anders verläuft, als wenn sie z. B. in einem Internetforum oder auf Facebook stattfinden würde.
Am letzten Tag unserer Runde müssen wir wieder zurück ins Eisacktal, wo unser Fahrzeug steht. Wir wandern ein Stück die Passstraße abwärts und steigen dann hinauf auf die Hohe Kreuzspitze. Das anfänglich gute Wetter trübt sich kurz vor dem Gipfel ein wenig ein, im Großen und Ganzen hält der Alpenhauptkamm die Störung aber auf Distanz. Beim Wechsel über die Scharte auf die Nordseite treffen wir das erste Mal in den vier Tagen auf mehr als zwei andere Tourengeher. Allerdings lässt sich die Gruppe von dem hartgepressten Hang und einigen aufziehenden Wolken abschrecken und macht kehrt. Auch Berni und Julia kommen nicht mehr ganz bis zum Gipel mit, weshalb ich mit den zwei verbliebenen Teilnehmern den Gipfelstopp stark verkürze. Die 1300 Höhenmeter Abfahrt nach Flading im Ratschingstal bieten alles, was so eine Modetour ausmacht: etwas unverpurten Pulverschnee neben der meist pistenähnlich eingefahrenen Hauptroute, aber auch etwas "Eisenbahnerpulver" im mittleren und unteren Teil. Von Flading läuft die Langlaufloipe flott hinaus bis zum Larchhof, wo wir gerademal 10 Minuten auf den Bus warten und auch in Sterzing haben wir nur kurzen Aufenthalt vor der Einfahrt unseres Zugs. So sind wir am zeitigen Nachmittag wieder in Gossensass und gönnen uns zur Abschlußbesprechung einen letzten Cappucino, bevor es über den Brenner zurück geht in die Heimat.