Stationen im Leben eines Mythos-Kletterschuhs
"Der Mythos ist doch kein richtiger Kletterschuh" raunzt mein Spezl mit abschätzigem Blick und müht sich in seine High-Tech-Boulderschuhe. Klar, einige typische Eigenschaften moderner Kletterschuhe fehlen, wie Vorspannung, Downturn oder Gummi-Patch am Spann für optimale, verschleißresistente Toe-Hooks. Allerdings ist der Mythos vom italienischen Hersteller La Sportiva der Klassiker unter den Kletterschuhen, erfunden von niemand geringerem als Heinz Mariacher. Bereits 1991 wurde das erste Modell in dem zur damaligen Klettermode passenden Violett verkauft. Seither gehört der Mythos immer noch zu den beliebtesten Kletterschuhen. Er dürfte damit der (bei nur geringen Modifizierungen) meistverkaufte Kletterschuh aller Zeiten sein. Obwohl ihm der Ruf des "Einsteiger- und Genusskletterschuhs" anhängt wird er auch von vielen Profis genutzt. So hat ihn zum Beispiel Alexander Huber bei nahezu allen seiner aufsehenerregenden Free-Solo-Begehungen getragen. Typische Softmover-Krabbeleien sind das nicht:
Mein Lieblingsschuh seit Jahrzehnten
Von solchen mentalen und klettersportlichen Großtaten bin ich weit entfernt. Das, was Alexander Huber an großen Wänden free solo klettert, das schaffe ich vielleicht grade mal so im gut gesicherten Klettergarten. Trotzdem schwöre auch ich seit 25 Jahren auf den Mythos als "eierlegende Wollmilchsau" der Kletterschuhe. Im Laufe der Zeit habe ich bestimmt 15-20 Paar davon "verschlissen". Er ist mein Basiskletterschuh, der immer zum Einsatz kommt - außer in den Fällen, wo etwas Anderes deutlich besser geeignet ist. Mindestens 85 % meiner Klettermeter lege ich seither in diesem Kletterschuh zurück. Beim Alpinklettern tendiert die Quote sogar schon fast gegen 100 %. Beim Sportklettern, in der Kletterhalle und als Kursleiter verbringe ich ebenfalls viel Kletterzeit im Mythos. Dabei habe ich aber immer mindestens drei Paar parallel im Einsatz. Der Grund dafür ist ganz einfach: Der Mythos wandelt sich im Laufe seines "Lebens" sehr stark. Und davon möchte ich Euch nun erzählen...
Kindheit und Jugend
Der frisch geschlüpfte, junge Mythos kommt bei mir an. Ich habe Schuhgröße 45 bis 45.5, das Kletterschuh-Baby ist mit Größe 42 auf die Welt gekommen. Bei den meisten anderen Kletterschuhen hab ich keine Chance in die 42 überhaupt hineinzukommen. Beim La Sportiva Mythos ist es dank der weit hinablaufenden Schnürung kein Problem. Vor dem ersten Klettern trage ich die Kletterpatschen ca. 3-4 mal 15 Minuten daheim in der Wohnung, um das Leder an meine Füße anzupassen. Das geht flott und nach dieser kurzen und (im Gegensatz zu vielen anderen Schuhen wenig schmerzhaften) Prozedur passen sie soweit, dass ich damit erste kurze Routen klettern kann. Anfangs fühlen sich die Schuhe steif und klobig an, was auch an der noch 4mm dicken Sohle liegt.
In dieser Phase sind die Zehen eingerollt, mit dem genialen Schnürsystem kann man eine brauchbare Vorspannung hinbekommen und durch die noch relativ steife Sohle mit scharfer Kante steht man prima auch auf kleinsten Leisten. Diese optimale Performance ist allerdings sehr vergänglich. Etwa 2-3 Klettertage dauert es, bis sich die Kante der Sohle abrundet und der Schuh deutlich weitet und weicher wird. In dem nun passgenauen, bequemen Schuh lassen sich vom Reibungstritt über die Tropflochdelle bis hin zur Fünf-Millimeter-Leiste die meisten Tritte ideal treten und das "Feeling" wird immer besser. Noch kleinere Leisten funktionieren auch, aber eher auf Reibung "hingeschlappt". An den Tritten ziehen klappt nicht so gut, in kleine Löcher antreten geht aufgrund der breiten runden Spitze nur schlecht. Heelhooks funktionieren ordentlich, Toehooks halten gut, machen aber die Schnürsenkel kaputt. So nutze ich den Mythos dann etwa 5-10 weitere Sportklettertage - auch in (für mich) schweren Touren. Nach Bedarf verwende ich parallel noch einen spezielleren Sportkletterschuh. In meinen stärkeren Zeiten bin ich selbst die schwersten Routen oft noch mit dem Mythos geklettert:
Der ausgewachsene Mythos
So nach und nach wird der kleine Mythos größer und irgendwann will er von den Spielplätzen der Klettergärten hinaus ins echte Leben im Gebirge. Meine bevorzugten Alpinkletterreviere sind die Nördlichen Kalkalpen und die Dolomiten, bzw. die Mehrseillängenrouten der Südalpen (z. B. um Arco). Zu Granit- und vor allem Sandsteintouren mit speziellen Rissklettereien hab ich selten Gelegenheit. Vor allem Faustrisse sind mit dem weichen Mythos nicht sehr angenehm zu klettern. Ein ähnliches Feeling können manche Wasserrillen bieten, ansonsten eignet sich der Schuh aber für die langen Touren hierzulande ideal. Gerade der wasserzerfressene Kalk oder der gut strukturierte Dolomit bieten viele flächige Tritte, die mit großer Auflagefläche auf Reibung angetreten werden können. Das größte Plus am Mythos in Mehrseillängenrouten ist aber seine Bequemlichkeit, ohne dass man ihn an jedem Stand ausziehen müsste. Das spart Zeit und bietet Sicherheit (wer kennt nicht die Geschichten von Kletterschuhen, die in der Tiefe verschwunden sind, weil ihr Träger den schmerzenden Zehen eine Pause gönnen wollte ...).
In den ersten (meist noch kürzeren) Mehr-Seillängen-Routen bin ich in jedem Fall barfuß in den Schuhen und meistens ziehe ich sie nach 2-3 Seillängen am Stand aus. In dieser Phase sind sie ideal für schwierige Mehrseillängentouren. Die Performance ist dann noch fast genauso gut wie beim Sportklettern. Schon bald kann ich damit 4-5 Stunden am Stück klettern, ohne sie ausziehen zu müssen. Leider weiten sich die Schuhe aber kontinuierlich, so dass sie mir irgendwann zu groß werden und die Performance drunter leidet. Ein wenig kann man das mit dünnen Socken kompensieren, aber bald taugen sie nur noch für Routen die unter meinem Schwierigkeitslimit liegen. Nachdem das aber die Mehrheit meiner alpinen Unternehmungen ist, hat der "gut eingekletterte Alpinmythos" bei mir die längste Lebensdauer von meist 1-2 Jahren.
Auch Kletterschuhe werden alt
Irgendwann lassen sich bei meinem La Sportiva Mythos die Alterserscheinungen nicht mehr verleugnen. Die Sohle wird ziemlich dünn, bei langen, leichteren Alpintouren spürt man jedes Steinchen auf den Fußballen drücken. Der Schuh ist so ausgelatscht, das ich auf kleinen Tritten nicht mehr gut stehen kann und die Ferse rutscht selbst bei leichten Hooks. Selbst wenn ich die recht flexible Schnürung bis aufs Letzte ausreize und mit Socken kletterer, schlabbert der Schuh am Fuß. Im vierten und fünften Schwierigkeitsgrad stellt das kein Problem dar, hier ist das Trittangebot in der Regel so üppig, dass man auch mit einem "Hausschuh" noch ordentlich klettern kann. Im Rahmen der Kletterkurse, die ich gelegentlich für meine Alpenvereinssektion gebe, sind wir nur in diesem Level unterwegs. Meistens stehe ich dabei herum und gebe schlaue Tipps. Dann ist es ideal, wenn ich nicht für jede kurze Demonstration extra in die Kletterschuhe schlüpfen muss, sondern sie während des gesamten Kurses trage.
Desöfteren darf der betagte Mythos jetzt wieder in den Klettergarten mitkommen - wenn ich zur Recherche, für Fotos oder zum Routeneinrichten in den Wänden herumhänge. In diesem Zustand ist der Mythos dann wirklich kein "richtiger Kletterschuh" mehr, sondern einfach ein bequemer Schuh, mit dem man auch noch einigermaßen klettern kann. Zuletzt verwende ich ihn in der Kletterhalle zum "runterschrotten" bis die Sohle endgültig durch ist - beim Routenspulen in leichteren Ausdauerrouten oder beim Einhängen von Routen für meine Kinder oder befreundete Kletterer die es "mal ausprobieren wollen". Eine Neubesohlung des Mythos erspare ich mir. Seine glorreichen Zeiten lassen sich damit nicht wiederbeleben. Irgendwann ist sein Ende gekommen und er muss Platz machen für einen jüngern Mythos.