Kletterurlaub im Epizentrum
Pfingsturlaub in den Friulanischen Alpen am Lago di Cavazzo
Im Jahr 1976 hat in Friaul die Erde mächtig gebebt. Etwa 15 Kilometer unterhalb des Monte San Simeone lag das Epizentrum des stärksten Erdbebens, das die Alpen in den letzten 200 Jahren heimgesucht hat. Die schlimmsten Zerstörungen richtete die Naturkatastrophe dabei in den Städten Gemona und Venzone an - insgesamt kamen in der Region dabei fast 1000 Menschen ums Leben. Kein Wunder, dass dieses Ereignis die Region und die Menschen stark geprägt hat. Bei der Wahl unseres Urlaubszieles waren wir uns dessen gar nicht bewusst und sind aber vor Ort immer wieder auf die Zeugnisse und auf Erwähnungen dieses verheerenden Unglücks gestoßen.
Mitten in den Pfingstferien starten wir am Samstag morgen zeitig, um aufgrund des befürchteten Urlauberverkehrs den Tauerntunnel schnell hinter uns zu bringen. Das Frühstück holen wir in einem netten kleinen Cafe, mit handgeschriebener Speisekarte, in St. Michael im Lungau nach. Vor Mittag erreichen wir den Lago di Cavazzo mit dem Camping Lago 3 municipalities. Schon fast kitschig wirkt der türkisblaue Cavazzosee vor der Kulisse der umliegenden Berge. Die Umgebung des Sees wurde teils parkählich angelegt - die perfekte Urlaubsidylle. Einziges Manko für die Wasserratten unter uns: Die Wassertemperatur liegt bei schrumpeligen 12 Grad.
"Schau'n wir uns gleich mal nach Klettermöglichkeiten um?" schlägt Stefan vor, als die Zelte aufgestellt sind. Mit unserem etwas veralteten Kletterführer "Klettern in Friaul" von Ingo Neumann irren wir durch Tolmezzo zum Monte Strabut. Das Gebiet macht einen viel versprechenden Eindruck. Es gibt Routen in allen Schwierigkeiten, der Wandfuß ist bequem, Zustieg entfällt und ab dem Nachmittag verzieht sich die sengende Sonne ums Eck. Einige Klassiker sind zwar höllisch abgespeckt, aber die meisten Routen bieten gute und halbwegs raue Felsqualität. Nachdem wir alles erkundet und uns ausreichend geplättet haben, gehts am Sonntag mit Kind und Kegel nochmal an den gleichen Felsen. Dieses mal dürfen die Frauen klettern und wir grillen uns gegenüber im riesigen Schotterbett das Hirn aus dem Schädel, weil die Kinder dort Steinmauern bauen wollen.
Nur wenig Kilometer östlich unseres Campingplatzes liegt Braulins, zu dessen Konglomeratwänden wir lobende Worte im Netz gelesen hatten. Auch im Kletterführer schauts ganz interessant aus mit schweren und leichteren Sektoren. Bei brütender Hitze steigen wir hinauf zur roten Kapelle mit dem mächtigen Überhang dahinter. Leider scheint das der einzige noch regelmäßig besuchte Sektor zu sein. Der Sektor Nuovo ist komplett im Dornengetrüpp verschwunden, den Zustiegspfad zum "La Torre" finden wir nicht und die "Muro Alto" schaut auch wenig geputzt aus. Aber der Hauptsektor ist landschaftlich ein Hit und ab mittag bei hoch stehender Sonne bereits weitgehend im Schatten. Die Kletterei ist steil und kraftraubend. Das eine oder andere künstliche Loch im Griffangebot muss jedoch in Kauf genommen werden - einige Routen sind sogar über längere Passagen künstlich. Die leichteste Tour ist zudem 6b+. Nix für unsere Frauen und Kinder. Letztere finden dafür in dem reichlich vorhandenen Staub am Wandfuß ideale Bedingungen für ihr Ackerbauspiel und sehen in kurzer Zeit aus wie steinzeitliche Höhlenkinder.
"Wir brauchen einen aktuellen Kletterführer" beschließe ich nach diesem anders als geplant verlaufenen Klettertag. Das nette Städchen Gemona ist nur zwei Kilometer entfernt. Allerdings ist am Nachmittag zwischen 13 und 16 Uhr alles geschlossen und angeblich ist auch das dortige Klettergebiet wegen Steinschlaggefahr gesperrt. Immerhin sehen wir ein bißchen was von der netten Altstadt. Überall hängen Schwarz-Weiß-Bilder, die einen Eindruck vermitteln, wie die inzwischen wieder aufgebauten Gebäude nach dem Erdbeben ausgesehen haben. Und eine Künstlergruppe hat sich zum Ziel gesetzt, die kargen Mauern der Stadt zu verschönern - an mehreren Stellen finden sich bunte Wandmalereien. Ähnliches ist uns übrigens auch in den Nachbarorten aufgefallen. Ohne Kletterführer trudeln wir am Campingplatz ein und unterstützen das Kochteam bei der Arbeit. "Grumpel" - mit einem ersten Donnergrollen macht die dunkle Wolke über dem Val Tagliamento auf sich aufmerksam. "Bauen wir schnell das Tarp auf!" schlägt Stefan vor. Einige Bäume neben unserem Stellplatz bieten sich als Verankerung an.
Kaum ist der letzte Hering versenkt, geht's auch schon los. Dicke Tropfen prasseln herab, begleitet von Blitz und Donner, zum Teil sind kleine Hagelkörner dabei. Leider ist der Standpunkt unseres Tarps ungünstig gewählt, da sich genau dort das gesamte Regenwasser des Campingplatzes sammelt. Schnell stehen wir knöcheltief im Wasser. Wir verlegen das Abendessen daher ins Vorzelt von Susi und Stefan, wo es aber zu acht ziemlich eng wird. Nach einer Stunde ist der Spuk vorbei und eine erste Bestandsaufnahme ergibt einige Wasserschäden an den in den Apsiden gelagerten Materialien. Auch die Böden unserer Zelte haben nicht 100% dicht gehalten.
Am Dienstagmorgen ist der Himmel grau und es tröpfelt teilweise leicht. Heute sind die Frauen wieder mit Klettern am Zug. Wir beschließen daher ins regensichere Klettergebiet Somplago zu fahren. Die Wand hängt auf gut 40 Meter Höhe permanent über. Der Hauptteil bleibt daher auch bei Regen trocken. Sogar am Wandfuß gibt's noch genug Platz für die Kinder um im Trockenen zu spielen - außerdem steht dort eine Kapelle mit überdachtem Vorraum. Das teils stark versinterte Kalkkonglomerat bietet herausragende Kletterei. In den bis zu 40 m langen Routen ist vor Fingerkraftausdauer gefordert. Mehrere kurze Baseclimbs ermöglichen auch in den unteren Graden nette Klettereien. Die Absicherung ist perfekt. Einziger störender Aspekt für ein Traumgebiet sind die vielen Kunstgriffe - vor allem am rechten Rand sind mehrere Routen über längere Passagen mit geschlagenen Griffen entstellt. Am Nachmittag verlegen wir das Geschehen dann in die Altstadt von Tolmezzo auf der Suche nach Eisdiele, Cafe und Kletterführer. Letzteres erneut ohne Erfolg.
Mittwoch ist Männerklettertag. Unsere Familien hängen heute am Zeltplatz und am See ab, für den späteren Nachmittag verabreden wir uns zum Bootfahren. Davor haben wir frei. "Die schönsten Sportkletterrouten in Friaul gibts bei Villa Santina!" Diese Aussage eines Locals, den wir letzten Herbst in Anduins getroffen haben, wollen wir heute überprüfen. Wir entscheiden uns für den Sektor Madrabau. Immerhin 10 Minuten Zustieg lassen ahnen, dass die Wand lohnend sein muss. Und tatsächlich: Der Fels schaut super aus. 30 Meter hoch, durchweg senkrecht bis leicht überhängend, nicht zu wenig aber auch nicht zu viel Struktur, teils leicht versintert. Bis die Sonne gegen Mittag die süd-südwestseitige Wand zu sehr aufgeheizt hat sind wir je vier Routen geklettert, die alle gut bis sehr gut sind. Um halb zwei stehen wir wieder am Parkplatz, um vier sollen wir am See sein. "Die zwei Stunden können wir noch in Somplago abhängen" schlage ich vor. Das Gebiet liegt direkt am Rückweg, der Zustieg ist mit 50 Metern auch kein Zeitfaktor. Nach weiteren je zwei Routen an den scharfen Löchern sind unsere Finger durch und wir können gemütlich Tretbootfahren.
Das Gewittermanagement können wir heute ebenfalls deutlich optimieren. Während des Kochens und Essens grummelt es zwar schon ganz bedrohlich über dem Monte San Simeone, das Unwetter läßt sich aber Zeit, bis das Geschirr gespült und wir Männer mit den beiden größeren Kindern in der Bar beim Schafkopf-Grundkurs sitzen. Derweil versuchen unsere Frauen im Zelt die Kleinen im Inferno aus Blitz, Donner und Starkregen zum Schlafen zu bringen. Es geht doch nichts über eine ausgewogene Aufgabenverteilung.
Die ausgleichende Gerechtigkeit ereilt Stefan und mich dafür dann am Donnerstag, den die Damen fürs Klettern gebucht haben. Unsere Daseinsberechtigung beschränkt sich auf das Einhängen einiger Topropes, Kinder bespaßen und Streit schlichten. Unser Klettergebiet der Wahl ist erneut der Monte Strabut, da er vor allem im linken Teil einige tolle langen Routen im Bereich 5b bis 6a bietet. Einige davon sind der Anfang von Mehrseillängenrouten, deren erste beiden Längen man mit 80-Meter Seil perfekt umlenken kann. Als akkustische Begleitung dient uns heute das Gewehrfeuer vom nahe gelegenen Schießplatz der italienischen Armee.
Am Vortag konnten Susi und Sabine während eines Einkaufstrips nach Gemona in der Touristinfo in Erfahrung bringen wie es sich mit der Sperrung des Klettergebiets verhält. Letztendlich bezieht sich die Sperrung auf den unteren Sektor (Strapiombi), bzw. den unteren Zustieg. Allerdings wird das von den Locals weitgehend ignoriert. Die oberen Sektoren sind auch offiziell unkriisch, wobei man dann aber als Direktzustieg ein Weglein nutzen muss, das durch Privatgelände führt und nicht leicht zu finden ist. Letztendlich handelt es sich bei der Sperrung wohl eher um eine Haftungsfrage. Uns ist nichts aufgefallen, was gefährlicher sein soll als bei den meisten anderen Klettergebieten. So richten wir unsere Basis am obersten Wandteil, dem Settore didattico ein. "Wir wollen auch klettern!" Unsere Kinder zeigen heute ungewohnte Klettermotivation. So fungieren Stefan und ich als Klettertrainer, während Sabine und Susi im benachbarten Settore Placche die netten 5er testen. Als am Nachmittag die Sonne ums Eck kommt, packen wir unsere Sachen und teilen die Reisegruppe auf. Frauen und Kinder fahren in die Eisdiele und weiter zum See, Stefan und ich pumpen uns in Somplago nochmal richtig die Unterarme auf.
Und schon ist der letzte Urlaubstag da. "Wir packen am Campingplatz alles zusammen und ihr könnt den Vormittag nochmal klettern" bieten uns die Mädels an. Das lassen wir uns nicht zweimal sagen und düsen nach Villa Santina. Diesmal wählen wir den Sektor Chiesetta, der uns zwar nicht ganz so gut taugt wie Madrabau - aber das ist Jammern auf hohem Niveau. Vielleicht liegts auch daran, dass uns die Bewertung sackhart vorkommt. Wir schieben es auf das schwüle Wetter und die Vorplättung vom gestrigen Abend in Somplago. Nach vier Routen ist Schluss. Am Rückweg schauen wir uns noch schnell das Klettergebiet Cavazzo an. Ein gewaltiger Konglomerat-Überhang mit vielen harten aber oft künstlichen Routen. Das eigentlich idyllische Tal wird von einer Horde in die Jahre gekommener Partybrüder in Camouflagemontur, mit mächtigen Bierbäuchen und ebenso mächtigen Boxen im VW-Bus, beschallt. Das freundlich angebotene Bier lehnen wir dankend ab und kehren ganz spießig zu unseren Familien zurück, um in geliehenen Kajaks am See zu paddeln.
Beim ersten Donnergrollen räumen wir den See und verabschieden uns vom Lago di Cavazzo, um das historische Städtchen Venzone zu besichtigen. Insbesondere der nahezu orginalgetreu wieder aufgebaute Dom ist absolut sehenswert und auch sonst ist der Bummel durch die schmalen Gassen durchaus zu empfehlen. Beim Pizzaessen am Hauptplatz dürfen wir unfreiwillig dem Abschlussständchen einer deutschen Fahrradreisegruppe lauschen, die besoffen ihre Schlager über den Platz grölen. Das Fremdschämen hält sich aber in Grenzen nach dem Erlebnis am Nachmittag mit den lärmenden Italienern in Cavazzo. Als die Sonne hinter dem Monte San Simeone verschwindet packen wir die Kinder ins Auto und es geht endgültig zurück in die Heimat.