Frühjahrswandern und Bergsteigen im Langtauferertal
Es steht wieder einmal ein Aufenthalt in unserem Lieblingstal am Fuße der Weißkugel an. Einen geschäftlichen Termin am Dienstag verlängern wir noch um ein paar Tage nach vorne, damit sich die gut zweieinhalb Stunden Anreise rentieren. Einquartiert sind wir natürlich wieder bei der Familie Thöni im Langtaufererhof - eine Top-Unterkunft mit ausgezeichnetem Essen, in der wir inzwischen bereits Stammgaststatus genießen. Die Anreise hat jedoch ihre Tücken. Noch unten im Inntal in Pfunds steht das erste Sperrschild. Die Reschenpass-Bundesstraße ist blockiert. Die Umleitung über Martina nach Nauders kostet uns 15 Minuten. Beim berühmten Kirchturm im Reschensee dann das nächste Sperrschild für die Langtauferer Straße - ohne einen Hinweis auf den Sperrungsgrund. Wir fahren trotzdem mal in das Tal. Beim Weiler Patscheid dann die Klarheit: Ein Murenabgang hat die Straße beschädigt und sie ist momentan unpassierbar - der Weg zum Langtaufererhof versperrt.
"Und jetzt?" Konrad und Jule blicken mich ratlos an. Ein kurzer Blick auf die Wanderkarte. "Hier führt ein Weg zur Patziner Alm, dort schauen wir einfach, was lohnend aussieht" ist mein Vorschlag fürs Tagesprogramm. Gesagt getan. Das Auto parken wir neben der heute ohnehin nutzlosen Bushaltestelle. Der Wanderweg startet 200 m westlich unseres Standpunktes, aber es führt vom Patscheiderhof ein kleiner Querweg diagonal über die Wiese zum eigentlichen Anstieg. Dummerweise ist dabei ein normalerweise kleiner Bach zu überqueren, der heute enorm viel Schmelzwasser führt. Ihn trockenen Fußes zu überqueren ist die erste alpine Herausforderung des Tages. Endlich am eigentlichen Wanderweg angekommen, steigen wir durch lichten Lärchenwald und über grüne Wiesen hinauf zur Patziner Alm.
Mit Blick auf das grüne Langtauferer Tal gibt es hier eine ausgiebige Brotzeit und wir beratschlagen den Weiterweg. Der Wölfeleskopf scheint eine lohnende Überschreitungsmöglichkeit zu bieten. Über weite, mäßig steile Wiesen steigen wir durch das Kar nach Norden auf. Wie nach diesem Rekordschneewinter zu erwarten, tauchen bald die ersten größeren Schneefelder auf. Auf dem gut gesetzten Sommerschnee läßt es sich aber problemlos wandern, nur an den Rändern der Schneefelder bricht man desöfteren bis zum Knie ein. Bald ist das Wölfelesjoch erreicht und ein flacher Gratrücken führt zum Gipfel. "Dort drüben ist die Klopaierspitze" zeige ich nach Westen. "Klopapierspitze?" albert Jule. Mit dieser Namens-Interpretation ist sie nicht die erste. "Die könnten wir morgen machen" schlage ich vor, da der felsige Gipfelaufbau interessant aussieht.
Vom Wölfeleskopf steigen wir über den etwas schuttigen Westgrat hinab ins Saletzjöchl und nach Süden zurück zur Patziner Alm. Der Abstieg geht dank der Schneefelder flott voran, da man prächtig hinabrutschen und laufen kann. Sobald wir die letzten Schneefelder hinter uns haben, erwartet uns eine Frühlingsidylle wie aus dem Bilderbuch. Grüne Wiesen mit unzähligen blühenden Kuhschellen und Enzian, dazu blöken die Schafe blöken und pfeiffen die Murmeltiere. Dazwischen gurgeln überall kleine und größere Bäche, voll gefüllt mit glasklarem Schmelzwasser. Wieder zurück am Ausgangspunkt bei der vermurten Straße erfahren wir, dass es eine zeitlich befristete Umfahrungsmöglichkeit über eine Forststraße gibt. So erreichen wir rechtzeitig vor dem Abendessen unsere Unterkunft, wo wir herzlich empfangen werden.
Am nächsten Morgen steht also die Klopaierspitze auf dem Programm ein steiler Felszahn direkt über dem Reschenpass, einer der besten Aussichtspunkte weit und breit.. Der Startpunkt dieser Wanderung befindet sich sechs Kilometer talauswärts unseres Quartiers wiederum jenseits der Mure. Aufgrund der weiterhin unklaren Verkehrssituation - und um für diese Kurzstrecke das Auto nicht bewegen zu müssen - leihen wir uns am Hotel drei E-Bikes aus. Damit fahren wir talabwärts bis kurz vor den Angerhof oberhalb Pedross. Die Gefährte haben noch einen weiteren Vorteil: man braucht keinen Parkplatz. Am Ausgangspunkt gibt es nur für 1-2 PKW einen geeigneten Abstellplatz.
Der Weg führt von anfangs ein Stück am steilen Pedrossbach entlang aufwärts und dann durch einen wunderschönen Lärchenwald und über sanfte Almwiesen zur großen Roßbodenalm. Hier treffen wir auf ein paar Arbeiter, die sich an den Zäunen zu schaffen machen. Der schneereiche Winter hat daran viele Schäden hinterlassen, die es jetzt zu reparieren gilt. Zur frühen Mittagspause erreichen wir den Grauner Berg. Dieser herrliche Aussichtspunkt hoch über dem Reschensee ist das perfekte Tagesziel für die gemütlichen Genußwanderer. Die 800 Höhenmeter lohnen sich in jedem Fall, der Tiefblick auf Reschensee und Haidersee und das Panorama der Ortlergruppe sind die üppige Belohnung dafür.
Wir hingegen sind für heute noch nicht am Ziel. "Schaut wild aus - wo geht denn der Weg rauf?" fragt Konrad beim Blick auf die felsige Klopaierspitze. "Wahrscheinlich rechts herum durch die Rinne" spekuliere ich. Der Steig quert nun durch die Steilflanke hoch über dem Reschenpass ins Klopaierloch, dem flachen Karboden südöstlich des Berges. Heuer liegt hier zu Pfingsten noch einiges an Schnee. Nach normalen Wintern kommt man bereits ab Anfang Juni schneefrei zum Gipfel. Aus diesem Grund hängen auch die Pickel an unseren Rucksäcken, vor allem für die steile Gipfelrinne. Über Schnee, einige und apere Wegpassagen mit leichten Felskletterstellen (bis Schwierigkeitsgrad I UIAA) steigen wir diesem Wächter des Reschenpasses nun auf die Krone. Der Ausblick ist atemberaubend. 1400 Höhenmeter steil unter uns liegen die Paßstraße und der große Stausee. Die Silvretta im Norden, das Engadin im Westen, der Ortler im Süden und der Langtauferer Talschluss mit der imposanten Weißkugel im Westen ergeben eine beeindruckende Rundumsicht.
"Wir sollten uns langsam an den Abstieg machen, im Süden beginnen schon die ersten Quellwolken in die Höhe zu schießen" mahne ich. Vorsichtig steigen und klettern wir die ersten steilen Passagen ab. Durch den flacheren unteren Teil der schneegefüllten Rinne fahren wir dann flugs ab ins Klopaier Loch. Von dort wandern wir gemütlich am Aufstiegsweg zurück zu unserem Fahrrad-Abstellplatz. Jetzt müssen wir noch gut 200 Höhenmeter talaufwärts radeln. Es ist das erste Mal für mich, dass ich mit einem E-Bike fahre - also eine gute Gelegenheit, mir eine Meinung zu dem Thema zu bilden.
Auf der leicht ansteigenden Straße fahre ich im Eco-Modus, dann fühlt es sich bei der Abriegelungsgrenze von 25 km/h ungefähr so anstrengend an wie ein Bike ohne Motor, nur dass man eben etwas schneller vorwärts kommt. Es gäbe noch drei höhere Gänge, die ich testweise ausprobiere. Im "Turbo-Modus" schiebt es mich auf Schotterstraße fast aus der Serpentine. Man kann dem Thema E-Bike gegenüberstehen wie man will: eine tolle Erfindung sind sie allemal. Vor allem wenn man das E-Bike als Ersatz zum Auto nehmen kann, finde ich es im Bergland eine super Sache. Für meinen Haupteinsatzbereich - die normalen Alltagsfahrten im Rosenheimer Flachland - bringt es mir hingegen wenig, da ab 25 km/h die Motorunterstützung aufhört, also bei einer Geschwindigkeit, die ich in der Ebene auch mit dem normalen Radl fahre.
Wir sitzen längst beim Abendessen, als das Gewitter endlich losbricht. Blitze zucken und der Regen prasselt. Die voll gefüllten Bäche bekommen noch mehr Zulauf, aber es gibt zum Glück keine weiteren Muren mehr. Am nächsten Tag bleibt zwar die Hauptstraße aus Sicherheitsgründen noch gesperrt aber sie ist immerhin bereits geräumt. Nach unserem Termin bleiben uns am Nachmittag ein paar Stunden Zeit, die wir für eine weitere, angenehm temperierte Wanderung nutzen wollen, bevor es wieder in die Hitze des Alpenvorlandes geht. "Sollen wir auf der Weißkugelhütte beim Stefan Plangger vorbeischauen?" frage ich. Den Stefan kenne ich bisher nur über die sozialen Medien, aber er hat mir schon desöfteren mit hilfreichen Tipps weitergeholfen. Er ist ein Bergführer aus der Region, der mit seiner Frau Aira in der zweiten Saison die Weißkugelhütte bewirtschaftet und sich damit einen Kindheitstraum erfüllt hat.
Gegen 15 Uhr starten wir in Melag und wählen den "3er-Weg", der vom rauschenden Melagbach schräg ansteigend zur Inneren Schäferhütte führt. Die hier liegenden Felsblöcke lassen Jule's Boulderherz sofort höher schlagen, aber mangels passender Ausrüstung bleibts bei ein paar kurzen Hängetests. An der Weißkugelhütte angekommen plaudern wir bei Bier und Nudelsuppe mit Stefan Plangger. Der späte Frühlingsbeginn und die momentan gesperrte Hauptstraße haben seinen Umsatz stark beeinträchtigt. Aber er ist zuversichtlich, dass dafür die Hauptsaison besser wird wenn sich die Ausaperung der Gletscherregionen etwas verzögert. Bald müssen wir wieder aufbrechen. Am Abstieg über den "2er-Weg" hinab in den Talboden der Melager Alm treffen wir auf ein Rudel Steinböcke. Die beeindruckenden Tiere lassen uns bis auf etwa 20 Meter herankommen, und traben dann gemächlich in die Steilflanke der 200 m hohen Seitenmoräne. Als wir endlich den Talboden erreicht haben, fängt es zum Tröpfeln an. Wir schaffen es aber noch trocken bis zum Langtaufererhof, wo wir uns von unseren Gastgebern verabschieden, bevor wir die Heimreise antreten.