Skitouren Villgratental - ein Wintermärchen
Flucht aus der Nordalpentristesse auf die Alpensüdseite
Seit Wochen siecht der Winter hierzulande vor sich hin. Ein vielversprechender Auftakt mit ganz ordentlicher Schneelage in den Bayerischen Alpen gegen Ende November wurde von einem Orkantief weggeblasen und das berüchtigte Weihnachtstauwetter in Form einer knackigen Südföhnlage gab den Tourenverhältnissen dann den Rest. Seither schwindeln wir uns über Skipisten und Forststraßen irgendwie in höher gelegene Schattenhänge um dort vielleicht noch ein paar Schwünge zwischen Steine, Gras und die verbliebenen Flocken zu kratzen.
Aber schrieb ich nicht gerade "Südföhn"? Ja richtig - bereits im Sachkundeuntericht der Grundschule lernten wir dazu: Wenn es im Norden Föhn hat, gibts es im Süden Stauniederschläge. Tatsächlich berichteten die Lawinenwarndienste der Alpenländer während der Weihnachtsfeiertage in den Südstaulagen von örtlich dreistelligen Neuschneezentimetern. Eine Anfrage im Familienrat erteilt grünes Licht. Nachdem der errechnete Entbindungstermin von Sabine noch ein paar Wochen in der Zukunft liegt, sollten ein paar Tage Skitouren drin sein ohne die Ankunft des neuen Erdenbürgers zu verpassen. Mit Kathrin peile ich die erste Januarwoche an.
Als ob er es gerochen hätte, meldet sich kurz vor Silvester auch noch Chris: "Suche jemanden für zwei, drei Tage Skitouren vom Bus in Südtirol, hast du Zeit". Chris hab ich schon seit einigen Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Vor fast einem Jahrzehnt hatten wir uns über gemeinsame Bekannte und Internetkanäle kennengelernt und eine große Interessenschnittmenge festgestellt. Größere Touren als etwas Sportklettern und Ratschen auf Parties hat sich aber nicht ergeben. Chris hatte dann einen Unfall, der seine Kletterkarriere beendete und so blieb es bei sehr seltenen Kontakten. Allerdings habe ich mitbekommen, dass er mit seinem lädierten Arm inzwischen als Radfahrer im Behindertensport ziemlich weit vorne mitfährt und so bin ich schon gespannt auf seine vermutlich bessere Kondition als meine und freue mich auf diesen Kurzurlaub.
Der letzte Wettercheck und die Feinabstimmung an Silvester konkretisieren sowohl das Ziel als auch den Zeitraum. Der Silvesterabend ist bei allen noch verplant, Chris möchte zudem am Sonntag an einem Tourenrennen bei Lienz teilnehmen. Abfahrt also am Mittoch, dem Neujahrstag nach Osttirol, Villgratental. Dann drei Tage Skitouren, am Samstag fahren Kathrin und ich mit dem Zug zurück. Und los gehts. Kathrin kommt mit dem Zug nach Rosenheim, Chris gabelt uns mit seinem ausgebauten Campingbus auf. Über die Felbertauernstraße geht es in den Süden - die Schneemenge nimmt ab Mittersill kontinuierlich zu. Am Eingang des tief verschneiten Villgratentales stellen wir uns auf geräumten Parkplatz. "Ich hab selbst gemachte Bolognese-Sauce dabei" verkündet Kathrin. Nudeln finden sich noch im Bus. Pasta basta perfekt. Chris' Ankündigung einer "kalten Nacht" im Bus entpuppt sich im Anschluß als leere Versprechung, klatschnass wache ich in der Nacht in meinem viel zu warmen Daunenschlafsack auf.
Der Donnerstag startet mit einem langen Frühstück und bis der Bus fahrtauglich umgebaut ist vergeht doch einiges an Zeit. Nachdem ab mittags schlechteres Wetter angekündigt ist, wollten wir eigentlich zeitig starten. Bis wir endlich am Parkplatz sind ist es schon fast halb zehn. Ausgesucht haben wir uns das "Rote Kinkele" - eine lohnende Tour auf einen schönen Aussichtspunkt, von der wir uns erhoffen, dass sie nicht ganz so häufig begangen wird wie die Berge im Talschluss und daher noch etwas mehr unverspurtes Gelände aufweist. Am Parkplatz im Arntal beim Fahrverbot steht dann außer einem italienischen Wohnmobil noch kein zweites Fahrzeug, was unsere Vermutung zu bestätigen scheint. Über freie, steile Wiesen gehts aufwärts zum Fürat-Hof wo sich eine weitere Parkmöglichkeit für etwas gehfaulere Tourengeher befindet, die bereits gut gefüllt ist. Nach einer Waldstufe erreichen wir eine pistenmäßig eingefahrene Forststraße, wo anscheinend von der Straße am Lahnberg noch zahlreiche weitere Tourengeher das Rote Kinkele besteigen. Wohl doch keine so einsame Tour ...
Entsprechend eingefahren sind dann auch die ersten Wiesen oberhalb der Kamelisenalm. Hier weitet sich das Gelände dann aber und die Spuren verteilen sich sehr gut, so dass wir noch genügend unverspurtes Areal für unsere Abfahrt entdecken können. Chris legt ein zügiges Tempo vor und ich mag nicht schwächeln, so dass wir einige Tourengeher überholen, bis wir am schmalen Gipfelgrat ankommen. Obwohl es einzwischen zugezogen hat, rutschen wir über den Grat noch hinüber zum Gipfelaufbau und steigen dem höchsten Punkt aufs Kreuz. Die Abfahrt wird dann von oben nach unten immer besser. Am ersten Hang halten wir uns aufgrund einiger verschneiter Felsen und diffuser Sicht noch etwas zurück, dann lassen wirs in den schönen Pulvermulden schon mal ein bißchen stauben. Der dünne Deckel im folgenden Südhang kostet meinem neuen Dynafit Baltoro nur ein müdes Lächeln und er fräst ohne Ruckeln durch die Schollen. Die flacheren West und Nordwesthänge bis zum Fahrweg oberhalb der Kamelisenalm bieten Pulver vom Feinsten. Hier meint Chris: "Ich würde gern nochmal ein Stück aufsteigen, dort die Scharte südlich vom Roten Kinkele schaut doch gut aus". Ich bin dabei - Kathrin fährt schon mal zum Bus ab und kocht Tee. Die 500 Höhenmeter startet Chris in flottem Tempo, ich lass ihn ziehen und begnüge mich mit einem gut 10minütigem Rückstand und der Aussicht noch zwei weitere Tage halbwegs fit sein zu müssen. Dafür lassen wirs in der Abfahrt dann laufen und ohne größere Stopps geht es hinab zum Bus und dem fertigen Tee.
Wir sind noch früh dran - die Zeit bis zum Abendessen will gefüllt sein. "Ich hätt noch Lust auf einen Cappuccino, sollen wir uns mal die Wirtschaft in Kalkstein anschauen und dort den morgigen Tag planen?" schlage ich vor. Das spacige Gebäude der Badlalm ist innen gemütlicher als es von außen erscheint und die Leute sind sehr freundlich, wenn auch ob der zahlreichen Besucher anfangs noch etwas gestresst. Beim Blättern durch Führer und Karten einigen wir uns für den nächsten Tag auf das Markinkele - allerdings über den etwas weniger frequentierten Aufstieg von Innervillgraten. Nachdem gutes Wetter angekündigt ist, peilen wir bis dorthin die Überschreitung vom Hochrast an. Im Dunkeln fahren wir hinab ins Dorf und suchen uns einen Stellplatz an einem Parkplatz von dem wir annehmen, dass er auch der Ausgangspunkt unserer Tour ist.
Der Freitag beschert uns einen sonnigen Morgen. Voller Tatendrang schnappen wir uns vom Parkplatz die erste Aufstiegsspur die wir sehen, in der Meinung, dass sie auf alle Fälle irgendwie in das Tal der Oberhofer Alm führt. An der ersten quer verlaufenden Forststraße endet die Spur jedoch. Voller Elan beginne ich in Spitzkehren den nicht allzu steilen, lichten Wald gerade hinauf zu spuren, ohne jedoch nochmal in die Karte zu schauen. Irgendwann kommt uns das ganze nach Kreuzung der dritten Forststraße dann doch etwas komisch vor und wir merken, dass wir einen Graben zu weit westlich sind, das Gelände aber nach Osten kein Queren zur Galleralm mehr erlaubt, was aus der recht ungenauen Freytag&Berndt-Karten so nicht erkenntlich ist. "Ich wüde vorschlagen, wir folgen dem Grat des Schwebaskofel, bis wir nach links abfahren können" stelle ich zur Disposition. Eine kurze, steile Querung läßt mich stocken und etwas in der Schneedecke wühlen. Die befürchtete Schwimmschneeschicht fehlt allerdings in dem Südosthang unter dem letzte Woche eingeblasenen Schnee.
Ohne größere Bedenken aber trotzdem mit Entlastungsabständen gehen wir die Querung an. Bald erkennen wir eine gute Abfahrtsmöglichkeit zur Oberhoferalm und nutzen sie, um uns den folgenden, felsigen Gratabschnitt zu ersparen. Der steilste Abschnitt des Südhangs (ca. 40 Grad) hat einen ziemlich massiven Bruchharschdeckel, aber sobald es flacher wird wandelt sich der Schnee mehr und mehr zu Pulver und in flotten Schwüngen geht es in den Talboden hinab. Nach dem erneuten Anfellen folgen wir der fetten Aufstiegsspur durch schöne Böden und über einen aussichtsreichen Grat zum Markinkele. Der Blick in die Sextener Dolomiten ist gigantisch - im Südwesten ziehen allerdings bereits die Vorboten des nächsten Italientiefs heran.
"Was machen wir jetzt noch?" fragt Chris wieder. Mir langts eigentlich für heute - das Spuren durch den Wald und die gestrigen fast 1800 Höhenmeter stecken mir noch etwas in den schlecht trainierten Knochen. Kathrin ist auch eher für eine Talabfahrt zu haben. "Dann fahren wir Richtung Oberhoferalm ab und ich steig noch schnell auf den Hochrast" schlägt Chris vor, so können wir gleich weiter hinab nach Innervillgraten fahren. Die Alternative wäre eine Abfahrt über die Nordwestseite nach Kalkstein, allerdings mit unklarer Rückkehr zum Auto. Der erste Hang ärgert uns ein bißchen mit seinem massiven Winddeckel, danach reiht sich bis zur Grafenalm Pulvermulde an Pulvermulde. Die Weiterfahrt durch den Talgrund wurde von unseren zahlreichen Vorgängern ordentlich platt gemacht. Über eindrucksvolle Lawinenkegel und einen schmalen, schnellen Ziehweg wedeln und schneepflügen wir bis nach Innervillgraten und können so auch gleich unseren Irrtum vom Morgen nachvollziehen. Die Zeit bis zur Ankunft von Chris nutzen wir, um Wasser- und Saftvorräte aufzufüllen und uns das kleine Dörfchen etwas genauer anzusehen. Damit es bis zum Abendessen nicht langweilig meint die ehemalige Spiel-Projektmanagerin Kathrin: "Ich hab hier ein lustiges Kartenspiel, so ähnlich wie Monopoly". Wir lassen uns überreden und mir ist heute netterweise das Glück hold.
Pünktlich zum Samstagmorgen trifft das angekündigte Schlechtwetter mit ersten Schneefällen ein. Weil wir am Nachmittag noch eine längere Heimreise mit dem Zug vor uns haben, wählen wir eine kürzere Tour. Die Pürgeleskunke ist eine der absoluten Modetouren im Tal und bereits am Vortag konnten wir die vielen Spuren in den Osthängen sehen. Ideal für schlechte Sicht und Schneefall. Gemütlich steigen wir in knapp 2 Stunden die unkomplizierten 900 Höhenmeter hinauf zum geräumigen Gipfel, wo es dichte Flocken schneit und der Wind bläst. "Hier brauchen wir nicht lange bleiben" sagt Chris. Ohne große Brotzeit nehmen wir die Abfahrt in Angriff und sind bald wieder am Bus.
Ein kurzer Zeit-Check ergibt eine realistische Chance auf den 13.50 Uhr Zug in Innichen, mit dem wir bereits um halb sechs in Rosenheim wären. Die nächste Möglichkeit bietet sich erst zwei Stunden später. So sputen wir uns mit dem Packen und Chris kurvt genauso zügig wie er mit Ski aufsteigt im dichten Schneegestöber die verschneite Straße hinab ins Pustertal. Nun müssen wir uns an das Tempo der vorausfahrenden Autos mit Tieflandkennzeichen anpassen, das aufgrund der Schneefahrbahn entsprechend schneckengleich ist. Trotzdem schaffen wir es rechtzeitig nach Innichen. Unsere Ratlosigkeit an dem topmodernen Touchscreen-Fahrkartenautomaten wird uns von einem netten Italiener genommen, als er erklärt "großer Automat nicht funktionieren, Ticket gibts an kleinem Automat". Hier bekommen wir dann unter Zeitdruck zumindest eine Fahrkarte, vermutlich bis Franzensfeste. Weil bis dorthin kein Schaffner auftaucht, erfahren wir aber auch nicht, obs die richtige war und ob wir bei der Entwertung alles richtig gemacht haben. In Franzensfeste das gleiche Spiel. Diesmal versuchen wir es wieder zuerst am großen, dann am kleinen Automaten - aber irgendwie möchten uns die Dinger keine Fahrkarte nach Rosenheim, bzw. München ausspucken. Wir beschließen sie im Zug zu lösen und der Schaffner erklärt uns dann, dass das sowieso der einzig vernünftige Weg sei. Der Eurocity von Bologna nach München ist jetzt zum Ferienende proppenvoll, so dass wir uns mit Ski, Rucksack und Skischuhen gemütlich auf dem halben Quadratmeter an den Eingangstüren direkt vor der Toilette einrichten. Nach einigen chaotischen Situationen beim Aus- und Einsteigen anderer, ebenfalls mit Ski und vielen Koffern bestückter Gäste, sowie zahlreichen Giftgasattacken aus der Toilette erreichen wir mit zehnminütiger Verspätung das verregnete und so gar nicht mehr winterliche Rosenheim.