Skidurchquerung von Kleinarl nach Rauris
Ungewöhnliche Gebietsdurchquerung mit Überraschungen in den Hohen Tauern
Einmal jährlich biete ich für eine meiner Alpenvereinssektionen ein sogenanntes "Lawinen-Entscheidungstraining mit Gebietsdurchquerung" an, heuer wieder für den Bergbund Rosenheim. Dabei handelt es sich um eine mehrtägige Skitour in der besonderes Augenmerk auf die Lawinensituation und die damit verbundenen Entscheidungsprozesse in einer Skitourengruppe gelegt wird. Die Teilnehmer sollen lernen, fundierte Aussagen über die lokale und zonale Lawinenlage zu machen und situationsgerechte Entscheidungen zu treffen. Die Wahl fällt diesmal auf die östlichen Hohen Tauern, da dort einerseits vergleichsweise viel Schnee liegt und andererseits die Topografie der Region auch bei eher angespannter Lawinenlage (Stufe 3) eine Durchquerung ermöglicht. Darüberhinaus kann ich für ein Buchprojekt Fotos und Infos aus der Region gut gebrauchen. Der Ausgangspunkt soll das Kleinarltal sein, die erste Übernachtung von Samstag auf Sonntag hab ich nach längerem Suchen in Hüttschlag im Großarltal reserviert. Die anderen Quartiere wollen wir vor Ort suchen.
Die Anfahrt läuft wie am Schnürchen, frühzeitig sind wir in St. Johann im Pongau, wo wir die Autos am Bahnhof deponieren. Der "Linienbus" nach Wagrain ist ein Kleinbus-Taxi, das so überfüllt ist, dass einige im Kofferraum auf den Rucksäcken sitzen müssen, dafür wird aber dann auch kein Fahrpreis berechnet. Weiter gehts mit dem kostenlosen Skibus bis in den Talgrund zum Jägersee. Wir sind die einzigen Tourengeher hier. Wir richten uns zum Abmarsch, als uns ein freundlicher Einheimischer in grüner Kluft fragt: "Wou wollscht denn hi?" "Ins Großarltal" "Aba nid dursch Dürrkoar, dou san 200 Stuck Roudwild!!!"
Na gut. Das hatten wir zwar sowieso nur als Plan B erwogen, falls uns der Aufstieg zum Tappenkarsee nicht gefallen sollte, aber damit hat sich die Entscheidung schon mal erledigt. Los gehts. Elli macht LVS-Check und wir warten am Beginn der Forststraße damit sie wieder aufschließen kann. "Das gibts doch nicht!" hören wir sie fluchen. Bei ihr hat sich eine Schraube gelockert - genauer gesagt hat sie die Gelenkschraube am Skischuh verloren. Ein perfekter Start für eine viertägige Gebietsdurchquerung. Aufsteigen geht so halbwegs, abfahren könnte wacklig werden. Wir hoffen auf die örtliche Fachhandelskompetenz an unserem heutigen Zielort.
Wir verdrängen die Problematik und erfreuen uns zuerst am malerischen Ambiente. Umrahmt von felsigen Bergen liegt hier am Talschluss der idyllische Jägersee und als ob es noch nicht kitschig genug wäre, paddelt eine Schar Schwäne auf dem letzten Rest offenen Wassers und zerhackt das sich ständig neu bildende Eis. Flach marschieren wir eine knappe Stunde in den Talschluss und bestaunen den üppigen Schilderwald der uns auf Schritt und Tritt klar macht, dass sich die liebe Jägerschaft über ein Abweichen vom Fahrweg nicht freuen würde. Aber auch andere überraschende Informationen werden uns übermittelt - so zum Beispiel dass Stöckelschuhe für den Weg zur Tappenkarseehütte ungeeignet sind:
So winden wir uns den neuen Tappenkarseesteig die steile Flanke hinauf. Laut Lawinenlagebericht ist so ab 1800 m schattseitig mit - durch große Zusatzbelastung - auslösbarem Triebschnee zu rechnen. Weil aber bereits unterhalb der Hangkante bei rund 1650 m erste etwas hohl klingende Triebschneeschollen liegen halten wir Abstände und an einem kleinen eingewehten Hang oberhalb im flachen Kar machen wir Pause und graben Schneeprofile. Ein kleiner Blocktest bricht überraschend leicht und glatt und stellt die inneren Alarmglocken eine Warnstufe höher.
Einsam liegt nun der zugefrorene Tappenkarsee vor uns. Aufgrund der gerade gewonnenen Erkenntnisse des Schneedeckenaufbaus und im Angesicht der aufziehenden Warmfront mit diffusem Licht canceln wir den angedachten Direktaufstieg zum Gurrenstein und peilen das Karteistörl an, wo wir noch schnell auf das Kreuzeck steigen.
Schon setzt Schneefall ein und ein kalter Wind überzeugt uns vom schleunigen Aufbruch. Durch schönen Pulverschnee wedeln wir bei schlechter Sicht hinab in den Karteisgraben bis zur Halmoosalm. Ab hier ist die Fahrstraße geräumt, so dass wir uns auf den schmalen Schneestreifen am Rand talwärts tasten. Irgendwo am Seilsitzberg endet dann der Schnee und wir marschieren mit geschulterten Ski hinab ins Tal.
Es sind noch zwei Kilometer nach Hüttschlag. Während wir ächzend durch den sulzigen Schnee auf der Loipe talauswärts skaten fährt der Skibus an uns vorbei. Unser Hotel heißt Hüttenwirt und ist für unsere Ansprüche eigentlich viel zu nobel. Nur der Hans als bekennender Wellness-Junkie nützt einen Teil des Angebots, das über die gute Halbpension weit hinausgeht. Nachdem ich aber am Vortag auf der mühsamen Suche nach einem Quartier an dieses 4-Sterne-Hotel geraten bin konnte ich einen günstigen Last-Minute-Preis für ein kurz zuvor von einer Familie storniertes Zimmer raushandeln. Verpflegung und Service sind allerdings ihren gehobenen Preis wert und die Gastgeber bemühen sich auch, unsere ausgefallenen Wünsche zu erfüllen. So wird für unsere Elli schnell und kurzfristig die Skischuhreparatur organisiert und die Wirtin verspricht, uns am nächsten Tag zum Tourengeherparkplatz hinaufzufahren.
Daraus wird dann allerdings nichts, da es über Nacht zu regnen beginnt und sie befürchtet, auf der vereisten Straße nicht hochfahren zu können. Zum Glück befindet sich noch der befreundeter Bergführer Karl Hegele unter den Gästen, der an diesem Tag ohnehin nur noch abreisen möchte. Karl fährt uns dann freundlicherweise mit seinem Allradbus zum Ausgangspunkt und bei leichtem Regen marschieren wir taleinwärts in Richtung Gamskarkogel.
"In mittleren Lagen sorgt der Festigkeitsverlust für einige vorwiegend kleine bis mittlere Nassschneelawinen, in hochalpinen Lagen gibt es umfangreichen und störanfälligen Triebschnee" meint der Lawinenlagebericht, dazu 10-25 cm Neuschnee, teils bis 40 cm. Dann schauen wir uns das mal vor Ort an. Die 25 cm Neuschnee sind bereits an der Tofernalm überschritten, das laute Donnern einer größeren "mittleren Lawine" aus der Südostflanke des Frauenkogel macht uns auch akustisch drauf aufmerksam, dass mit der Situation heute nicht zu spaßen sein wird. Zudem sind in allen Expositionen zahlreiche, oft garnicht so kleine Abgänge zu bestaunen: Gleitschneelawinen, Lockerschneelawinen, Schneebretter von spontan abgegangenem Triebschnee, der auch tiefere Schichten mitnimmt. Den Gamskogel streichen wir endgültig vom Programm, als wir in 50 cm tiefem und sehr schwerem Neuschnee hinauf zur Tofernscharte spuren.
Problemlos hingegen stellt sich der Gratübergang bis zum Throneck dar. Nur das folgende Steilstück hinab in die Scharte vor dem Kreuzkogel ist sehr schmal und steil mit kurzen abgeblasenen Passagen. Hier tragen wir die Ski hinab. Wir folgen nun dem sicheren Rücken in knietiefem "Baatz" hinab zum Froneck und durch meist lichten Wald (und über einige Windbruchhürden) zum Gasthof Poserhöhe. Hier auf diesem exponierten Geländeabsatz hoch über Bad Gastein wird die Schneelage schon dürftig und auf den folgenden 250 Hm müssen mehrmals die Ski abgeschnallt werden, bevor wir endgültig durch steilen Wald hinabtragen zu einem Gasthaus/Cafe. Wieder einmal erleben wir die herbe Gasteiner Gastfreundschaft, die sich gerne drauf beschränkt, möglichst viel Geld mit möglichst wenig Aufwand zu verdienen. Ich frage die Wirtin: "Hätten Sie Zimmer für uns frei?", worauf sie schon fast panisch antwortet: "Naaa - die Gäste san heut erst abgereist und i hon de Zimmer no nid gmacht". Ich hake noch nach, dass wir warten können und auch keine Ansprüche stellen. Wir wären einfach froh, eine Unterkunft zu haben ohne weit mit dem Taxi fahren zu müssen, da wir ja kein Fahrzeug dabei haben. Aber kommt überhaupt nicht in Frage, unmöglich, Gäste wollen wir nicht! Es stellt sich die Frage ob die Touristiker des Gasteinertales nicht wollen oder nicht können. Wie wäre es mal mit einer Fortbildung? Gibt's auch als Abendkurse für Touristik oder als Fernstudium Sportmanagement, um dem aktiven Zielpublikum bedürfnisgerechte Angebote entwickeln zu können! Anstatt sich auf vergangenen Lorbeeren auszuruhen und die Infrastruktur verfallen zu lassen, würde dem "Monte Carlo der Alpen" frischer Wind gut tun, aber dafür braucht es etwas mehr Engagement.
Also ab ins nächste Level. Handy raus, Gasthofsuche per Internet, was im Gasteinertal natürlich eine endlos lange Liste auswirft. Wo anfangen? "Gasthof xy hört sich lustig an, da ruf ich jetzt an" sage ich. Gewählt, gefragt, gebucht. 35 Euro mit Frühstück - für Gasteiner Verhältnisse relativ günstig, den zu erwartenden Haken an der Sache nehmen wir in Kauf. Das Taxi kostet uns nochmal 30 Euro, aber durch fünf geteilt passt das. Wir hoffen, am nächsten Tag nur noch den kostenlosen Skibus zu benötigen. Die Wirtschaft schaut von außen ein wenig antiquiert aus und das ändert sich auch nicht als wir eintreten. Alles in allem versprüht das Etablissement den Charme der 60er Jahre, bewirtschaftet von einem alten Ehepaar und dem offensichtlich zu Hause hängengebliebenen Sohn. Die weitere Begutachtung liefert zusätzliche unterhaltsame Erkenntnisse. Die Zimmer sind dunkel und wurden in den letzten Jahren sorgfältig vor Frischluft abgeschirmt. Spinnen werden von den Gastgebern als nützliche Tiere geschätzt und dürfen in großer Zahl überwintern. Wenn die Badetüre zu groß ist, um sich an der Handtuchstange vorbei öffnen zu lassen, läßt sich das schnell und praktikabel lösen, indem man aus der Tür ein Eck herausschneidet. Dafür serviert uns der Seniorchef wirklich gute und reichhaltige Kässpatzen zu einem günstigen Preis und der Junior ist im Anschluß dafür zuständig, unser tagsüber entstandenes Flüssigkeitsdefizit auszugleichen. Schlag halb zehn offenbart er uns aber, dass jetzt Sperrstunde sei, weil er morgen früh raus muss. Noch zehn Minuten benötigen wir, um unsere Tourenplanung fertigzustellen, begleitet von unmißverständlicher Geräuschkulisse, die uns klarmachen soll, dass wir uns jetzt gefälligst in die Zimmer verziehen sollen. Na gut, bissl Ausschlafen ist ja auch nicht schlecht und das soll sich hinsichtlich der nächsten Nacht noch als nötig erweisen. Das Frühstück ist dann im großen und ganzen in Ordnung, auch wenn nicht alle Tassen sauber gespült sind und die Aufbacksemmeln Aldi-Qualität aufweisen, die meine Mutter höchstens fürs Knödelbrot verwendet hätte. Gerade als wir kurz nach halb neun Richtungs Skibus-Haltestelle abmarschieren gähnt sich auch der Junior aus seinen Gemächern. Gastwirt ist halt ein stressiger Job.
Im Skizentrum Angertal entschlüpfen wir dem Skibus und versuchen schnellstmöglich den Weg aus dem Pistentrubel zu finden. Gut 200 Höhenmeter müssen wir entlang der Skipiste aufsteigen und wundern uns, wieviele Leute trotz offensichtlich fehlendem Talent Unsummen an Geld fürs Skifahren ausgeben. Dafür werden wir von eben diesen Leuten verwundert angeschaut, weil wir mit Ski schneller bergauf gehen können als sie abfahren. Endlich sind wir am Beginn der Fahrstraße ins Lafenbachtal und die beiden gegensätzlichen Universen können wieder unbeeinflußt voneinander existieren. "Die Lawinengefahr ist ERHEBLICH! Spontane Lawinen sind speziell in Lagen unterhalb von 2500 m schon am Vormittag zu erwarten: kleine bis mittlere Nassschneeabgänge, spontane Schneebretter, Lockerschneelawinen aus steilen, sonnseitigem Gelände oder einzelne Gleitschneelawinen. Mit zunehmender Erwärmung und Sonnenschein erfasst der Festigkeitsverlust tagsüber höhere, sonnseitig auch hochalpine Lagen." So lautet der Lagebericht heute und das hört sich deutlich schärfer an als gestern, weshalb ich skeptisch bin, ob unser geplanter Aufstieg zum Rührkübel heute wird möglich sein.
Wir beschließen den steilen Direktaufstieg links zu umgehen und gerade als wir die Talseite wechseln möchten, kommen zwei Abfahrer über den Steilhang herab. Wir hätten in dem Südosthang knietiefen Sulz erwartet, aber so tief sehen die Spuren garnicht aus. Trotzdem bleiben wir bei unserem Plan und steigen im oberflächlich gefrorenen Nordosthang hinauf zur Stanzscharte. Bei diesem Aufstieg wird uns klar, dass die Lawinenlage weit weniger kritisch ist als am Vortag und (wohl durch die geringe Luftfeuchtigkeit) eine deutliche Stabilisierung eingetreten ist. Wir queren also nun zur üblichen Route und erreichen ohne Probleme das Skidepot. Zu Fuß gehts zum höchsten Punkt, den niedrigeren Felsturm mit dem Kreuz fotografieren wir nur.
Die grandiose Abfahrt ins Försterbachtal weist auf 1000 Höhenmeter ideales Skigelände auf. Leider ist die Schneequalität alles andere als ideal und so mühen wir uns zwischen Bruchharsch und Sulz talwärts. Ab der Alm läuft dann eine Fahrstraße leidlich gut hinaus in Richtung Rauris und wir können tatsächlich mit etwas gutem Willen bis zu den ersten Häusern vom Vorstandrevier abfahren.
"Wo kummts ihr her?" Fragt mich ein weißbärtiges Manndl vor einem schmucken Holzhaus. "Von Gastein", anworte ich. "Derf i Eich auf an Schnaps einladen, i hob grad des Gartenhaus ooghoazt". Ob ein Schnaps der ideale Durstlöscher für unsere ausgetrockneten Kehlen ist bezweifle ich, aber wir können uns der herzlichen Einladung nicht entziehen. Kaum Platz genommen stehen nicht nur eine Flasche mit selbstgebranntem Birnenschnaps aufm Tisch, sondern auch noch mehrere Flaschen Bier. Kurze Zeit später bringt die Frau unseres Gastgebers eine gewaltige Jausenplatte mit Speck, Wurst, Käse, Eier, Gurken, Paprika und Brot.
Es wird ein sehr lustiger Nachmittag, dazu organisieren uns die beiden noch die originelle Ferienhütte ihres Sohnes in Bucheben als günstige Übernachtungsmöglichkeit und übernehmen den Fahrdienst dorthin, sowie zum Abendessen beim sehr guten Andrelwirt in Worth im Rauristal. Als kleines Dankeschön laden wir sie dort zu einem gemeinsamen Abendessen ein. Erst recht spät kommen wir ins Bett, die vollgestopften Bäuche und der erhöhte Promillewert sorgen nicht gerade für einen erholsamen Schlaf. Am nächsten Morgen wird die eher verkaterte Stimmung durch das Regenwetter vor der Tür zusätzlich gedämpft. Die geplante letzte Etappe ins Wolfbachtal oder nach Fusch lassen wir daher entfallen und vertreiben uns die Zeit bis zur Abfahrt des Busses nach Taxenbach mit Lawinentheorie. Genauso problemlos wie die Anreise klappt auch die Rückreise zu unseren deponierten Autos und die vielen Erlebnisse der letzten dreieinhalb Tage sorgen für unterhaltsamen Gesprächsstoff auf der Heimreise.