Skibergsteigen im Wipptal
Ein Skandinavienhoch sorgt für kaltes, sonniges Wetter. In ganz Tirol herrscht Lawinenwarnstufe 1 und ich hab daheim für das ganze Wochenende Ausgang bekommen. Beste Voraussetzungen, um mal wieder "was Gscheit's" zu reissen. Michael Vitzthum hat auch Zeit also vereinbaren wir eine gemeinsam Skitour. Wie es bei ihm Standard ist, natürlich mit Öffi-Anreise. Wir fragen etwas herum, ob sich noch jemand anschließen möchte. Ein paar Leute signalisieren zuerst Interesse - letztendlich sorgen dann aber Verletzungen, positive Coronatests und andere Vorkommnisse dafür, dass wir zu zweit starten. Um am Samstag nicht zu früh aufstehen zu müssen, wollen wir entspannt am Freitagabend anreisen und dann Samstag und Sonntag zwei ambitionierte Ziele angehen.
Ich hab seit Jahren ein paar Rechnungen in den östlichen Stubaier Alpen offen, für die sich die lawinensicheren Bedingungen geradezu aufdrängen. Da trifft es sich gut, dass erst kürzlich ein Kontakt zum Tourismusbüro Wipptal zu Stande gekommen ist. Dort hat man erkannt, wie ideal sich die Berge in der Brennerregion für mehrtägige Überschreitungen mit Tourenski eignen. Der Tourismusverband hat daher die Wipptaler Skidurchquerung kreiert, eine "Haute Route für Anfänger" mit kurzen Etappen sowie einer zentralen, komfortablen Unterkunft im Tal, von der aus die einzelnen Etappen jeweils mit Öffentlichen Verkehrmitteln erreichbar sind. Als Autor des lokalen Skitourenführers hatte ich eine Einladung zur Premierentour für "Pressevertreter". Allerdings war es mir zeitlich nicht möglich, teilzunehmen. Anstatt mich mühsam durch die Websites der zahlreichen Unterkünfte zu quälen, rufe ich also bei der Dame im Tourismusbüro an, erkläre kurz unseren Plan und bekomme kurz darauf zwei Vorschläge für ideal gelegene Unterkünfte präsentiert.
Anreise am Freitag
Um 16 Uhr radle ich zum Bahnhof in Rosenheim. "Scheissvoll der Zug, habe Platz im Wagen 255" schickt mir Michael eine SMS, dass er mir im ziemlich vollen Wochenend-Eurocity einen Platz freigehalten hat. Eigentlich hätten wir in Innsbruck eine halbe Stunde Aufenthalt. Aber der Schnellzug ist zwei Minuten früher dran und gegenüber am Bahnsteig steht noch die frühere S3 nach Steinach. Auch in Steinach müssen wir nur aus dem Bahnhofsgebäude raus und in den Bus Nr. 4145 nach Obernberg steigen. Um 18 Uhr steigen wir an der Bushaltestelle direkt vor Almis Berghotel in Obernberg am Brenner aus. "Wow - das lief ja mal wie geschmiert" rufe ich begeistert. Genau zwei Stunden von Haustüre - zu Haustüre und das gerade mal für 20 Euro. Die Öffi-Anreise ab Innsbruck ist in der Gästekarte inklusive - einen entsprechenden Voucher kann man sich vorab per Mail vom Hotel zuschicken lassen.
Der Betrieb der rürigen Hotelchefin Burgi Almberger ist sicherlich die beste Adresse im Obernbergtal. Bisher war ich hier nur zum Essen, wenn wir uns in einem der zahlreichen Appartements einquartiert hatten. Diese Mal haben wir Zimmer mit Halbpension. Neben den klassischen Gerichten bekommt man im Hotelrestaurant auch vorzügliches vegetarisches und veganes Essen. Nachdem mir Fleisch nicht besonders schmeckt kommt mir das sehr entgegen. Ohnehin eignet sich vegetarische oder vegane Ernährung besser für den Ausdauersport. Wenn ich abends Fleisch esse hab ich immer das Gefühl dass ich für die Verdauung mehr Energie benötige, als am nächsten Tag dann für die Tour zur Verfügung gestellt wird. Wir genießen das Abendessen und im Anschluss unterhalten wir uns bei einem Glas Wein noch lange mit der Herrin des Hauses.
Samstag: Gschnitzer Tribulaun von Obernberg
Ein klarer, kalter Samstag morgen erwartet uns. Nach einem ausgiebigen Frühstück spazieren wir mit den Skiern gemütlich in den eindrucksvollen Talschluss des Obernbergtals. Unser erstes Ziel ist das Gstreinjöchl. "Wie kommt man da drüber?" fragt Michael. "In den Skitourenführern und im Internet hab ich nichts dazu gefunden" antworte ich, "aber auf der Karte schauts so aus als ob es gut gehen müsste". Die Hänge sind zwar durchgehend steil, jedoch ohne größere Felsstufen. Vor der gewaltigen Kulisse des Obernberger Tribulauns spure ich die immer steiler werdenden Flanke hinauf. Die Sonne hat die Oberfläche bereits etwas angeweicht, so dass ich trotz etwa 40 Grad Hangneigung eine gut gangbare Spur legen kann. Uns ist klar: in diesem Riesenhang braucht es absolut sichere Lawinenverhältnisse. Wann sonst - wenn nicht heute! Die letzten Meter zum Jöchl sind dann wieder bequemes, kupiertes Gelände und der Blick auf die nicht minder eindrucksvolle Szenerie im Schneetal wird frei.
"Ich brauch' jetzt 'ne Pause" jammere ich, nachdem mich die steile Spurarbeit und immerhin bereits 1200 Höhenmeter Aufstieg seit unserem Aufbruch am Hotel schon einige Körner gekostet haben. Ein leichter aber eiskalter Nordostwind laden allerdings nicht zum Verweilen ein. "Vielleicht sollten wir erst abfahren - ich glaube da unten könnte es gemütlicher sein" schlägt Michael vor. Runter gehts ja immer irgendwie. Tatsächlich ermöglicht eine schmale Rinne die direkte Einfahrt vom Grat. Nachdem auf den ersten, sehr steilen Metern ein brüchiger Deckel auf dem Schwimmschnee liegt und einige Sharks hervorlugen, rutsche ich vorsichtig seitlich ab bevor ich in die südexponierte, leicht angefirnte Hauptflanke fahren kann. Perfekte Bedingungen für diesen gut 40 Grad steilen Hang. Zum Talboden ändert sich der Schnee. Erst gibt es noch schönen Pulverschnee, der aber bald vom Wind gedeckelt ist oder darunter harte Windgangeln versteckt. An einer solchen tückischen Windgangel bleibe ich hängen und verursache einen formidablen Einschlagkrater. Tatsächlich finden wir einen windgeschützten Platz an der Südseite eines Felsblocks für eine ausgiebiges Mittagspäuschen.
Tagesprogramm Teil 2: Der Gschnitzer Tribulaun ist ein gewaltiger Felskoloss mit einem überraschend leichten Aufstieg. In vielen Spitzkehren geht es hinauf in die Schneescharte. "Rentiert es sich die Ski zur Gipfelflanke hinaufzutragen?" frage ich in der Schneetalscharte eine Gruppe die sich gerade für die Abfahrt rüstet. "Wir haben sie über die Felsstufe mitgenommen, aber dann oberhalb deponiert - alles recht abgeblasen" bekomme ich zur Antwort. Also lassen wir die Skier in der Scharte. In den ersten, meist flachen Felspassagen hängt ein Stahlseil, danach stapfen wir eine kurze etwas steilere Schneerinne hinauf. Die Steigeisen lassen wir im Rucksack. Der Weiterweg über den Ostrücken und die flache Gipfelflanke ist problemlos, zieht sich aber. Ziehen tut es auch am Gipfel, weshalb wir uns warm anziehen, um das sagenhafte Panorama bis weit hinab in die Dolomiten genießen zu können.
Zügig steigen wir hinab zum Skidepot. Die Abfahrt durch das vom Sturm der letzten Wochen gezeichnete Schneetal gestaltet sich besser als befürchtet und je tiefer wir kommen, desto lockerer wird der Schnee. Zuletzt schwingen wir in feinstem Pulver ins Sandestal hinab. Auf dem gut ausgefahrenen Almweg bleiben wir immer wieder stehen und blicken zurück auf die gewaltigen Felsberge im Talschluss. Tief unten im Gschnitztal gleiten wir auf der Langlaufloipe am Gasthaus Feuerstein vorbei bis kurz vor unsere Unterkunft am Alfaierhof.
Unser heutiger Gastgeber Ferdinand Pranger begrüßt uns gleich mit einem Schnaps - das ideale Getränk für unser durstigen Kehlen nach einer Skitour mit knapp 2000 Höhenmetern. Dass der "Ferdl" ein Gschnitztaler-Original ist erkennt man nicht nur an seiner Jacke auf der in großen Lettern "Rinderzüchter" prangt, sondern auch an den unzähligen Auszeichnungen und Ehrungen als Touristiker und Landwirt, von denen die mit Urkunden getäfelten Wände erzählen. Die Speisekarte fürs Abendessen ist hier erwartungsgemäß deutlich traditioneller und sehr fleischlastig, die Auswahl für mich daher ziemlich eingeschränkt. Die Touristenportion Kässpatzen langt nicht, um meine Kohlenhydratspeicher aufzufüllen, das kann auch das sehr reichhaltige und gute Frühstück nicht mehr ganz nachholen.
Sonntag: Skitour auf den Habicht
Das ausgiebige Frühstück ist auch der Grund weshalb wir erst relativ spät - so kurz nach 8 - zu unserer heutigen Tour auf den Habicht starten. "Gleich rechts vom Bach führt der Winterwanderweg entlang" verabschiedet uns der Wirt noch. Das beherzigen wir und lassen auch die Brücke, die wieder nach links zum Gasthaus Feuerstein führt, unbeachtet liegen. Wir folgen einer einzelnen Skispur, die geradeaus führt. Das erweist sich als eher suboptimal. Wir mühen uns in lästigem Auf- und Ab durch Stauden und einige Gräben entlang eines schmalen Sommerwegs bis wir endlich auf die Fahrstraße treffen, die vom Gasthaus Feuerstein heraufkommt. Wer solche Schwierigkeiten meistert, den kann nichts mehr aufhalten. In der gut ausgetretenen steilen Waldstufe auf die Glättealm sind Harscheisen sehr angenehm, oberhalb verschwinden sie aber wieder im Rucksack und auf steiler aber guter Spur gewinnen wir zügig an Höhe.
"Ich muss etwas langsamer machen" jammere ich schon wieder. Heute fehlt meinem Körper wohl der Brennstoff aufgrund des Kohlenhydrat-Defizits vom Vortag. Ich schalte also um auf Fettstoffwechsel und versuche die Belastung auf das Niveau der Grundlagenausdauer herabzusenken. Michael düst voraus und wartet nach dem Riesenhang unterhalb der steilen Gipfelrinne auf mich, wo ich zwar mit 10 Minuten Verspätung, dafür relativ entspannt ankomme. Die Rinne ist bockhart. Von Firn keine Spur, obwohl seit Stunden die Sonne draufscheint. Es heißt also: "Ski an den Rucksack und stapfen". Das lässt sich mit meiner Grundlagenbelastung allerdings nicht vereinbaren, weshalb ich auf den 250 Höhenmetern bis zum Grat gehörig ins Schnaufen komme. Als wir am Skidepot knapp unterhalb des höchsten Punkts ankommen, machen sich gerade die letzten unserer Vorgänger bereit für die Abfahrt. Den Gipfel haben wir komplett für uns allein.
Der Ausblick ist gigantisch. Im Norden das Karwendel- und Wettersteingebirge, im Westen und Südwesten die Eisriesen der Stubaier und der Ötztaler Alpen. Im Südosten ragen hinter unserem gestrigen Ziel die Dolomiten auf und im Osten stehen die Tuxer und Zillertaler Alpen. Unvorstellbar, dass nur 1000 Kilometer weiter in diese Richtung just in diesem Moment viele unschuldige Ukrainer*innen und blutjunge russische Soldaten sterben müssen, weil es einem verrückt gewordenen Diktator nicht mehr reicht, dass er das größte Land der Welt beherrscht und seine Bewohner tyrannisiert. Wer weiß, was dieser Verbrecher in der nächsten Zeit noch alles anrichten wird.
Wir schütteln diese beklemmenden Gedanken von uns und machen uns bereit für die Abfahrt. Die Gipfelrinne ist heute anspruchsvoll - ein Sturz würde hier höchstwahrscheinlich sehr unerfreulich enden, weshalb wir vorsichtig und konzentriert abfahren. Danach folgen endlose Hänge mit idealem Skigelände. Die Schneequalität könnte zwar besser sein, trotzdem genießen wir es, die mühsam erarbeiteten Höhenmeter flott talwärts zu kurven. Das softe Nachmittagslicht zwingt uns immer wieder zu Foto-Stopps. Bald sind wir endgültig im Schatten und zirkeln durch die steile Rinne des Bachbetts neben unserer Aufstiegsroute ins Tal.
Die Terrasse des Gasthauses Feuerstein liegt in der Nachmittagssonne und wir nutzen die verbleibende Stunde bis zur Abfahrt unseres Busses für Kaffee, Kuchen und eine kräftige Kaspressknödel-Suppe. Die Bushaltestelle liegt direkt neben dem Gasthaus, kurz nach 17 Uhr erscheint der Postbus. Der Busfahrer fährt einen heißen Reifen auf der kurvigen Straße nach Steinach und mit der S-Bahn geht es zurück nach Innsbruck. Dieses mal bleibt uns die halbe Stunde Aufenthalt nicht erspart, aber Michael nutzt sie, um sich im M-Preis noch Fahrtverpflegung zu besorgen. Bald rollen wir entspannt im Eurocity das Inntal hinaus und nach zwei genialen Tourentagen freue ich mich auf das Abendessen daheim mit meiner Familie.