Lawinenstrategie für Anfänger
Die Einschätzung des Lawinenrisikos gilt zu recht als eines der komplexesten Sicherheitsthemen im gesamten Bergsportbereich. Dazu eignen sich Lawinenunfälle vorzüglich für aufsehenerregende Medienbeiträge, mit dem Ergebnis, dass man überproportional viel über Lawinenunglücke liest.
Für Skitourenanfänger ragt daher nicht nur der Berg vor einem auf, den es zu besteigen gilt, sondern auch ein schier unüberwindbarer Berg aus Angst, Vorurteilen und Informationen zum Thema Lawinen. Die Folge: Die wenigsten trauen sich von Anfang an an die Sache heran. Allerdings haben selbst Experten klein angefangen und ohne sich damit zu beschäftigen geht es nicht. In diesem Beitrag möchte ich Wintersport-Einsteigern einen Weg aufzeigen, von Anfang an eigenverantwortlich mit dem Thema Lawinen umzugehen und mit gerigem Risiko eigene Erfahrungen zu sammeln.
Allgemeines Lawinenrisiko auf Skitouren
Kennt man Meldungen über Lawinen nur aus Funk, Fernsehen und Presse, bekommt man sehr schnell den Eindruck, dass jeder Schritt im winterlichen Gebirge abseits gesicherter Skipisten brandgefährlich ist. So ist es allerdings nicht! Im gesamten Alpenraum, von Frankreich und Italien über die Schweiz bis nach Ostösterreich sterben pro Jahr durchschnittlich etwa 100 Personen in Lawinen. Auf Tourengeher entfallen davon etwa 2/3 - der Rest sind Variantenfahrer, Winterbergsteiger, Schneeschuhwanderer und andere. In Österreich sind es jährlich etwa 20-25 Lawinentote (Gesamt für Skitouren, Freeriden, Snowboarden, Winterwandern, Eisklettern und sonstigen Aktivitäten). Zum Vergleich: Die Anzahl an Fahrrad- und E-Bikefahrer, die pro Jahr in Österreich sterben liegt, mit ca. 40-50 Toten etwa doppelt so hoch. Die mediale Aufmerksamkeit dafür beträgt allerdings nur einen Bruchteil der Meldungen über Lawinenunfälle.
Zeitliches und regionales Lawinenrisiko
Nun ist es nicht so, das jede Skitour jederzeit gleich riskant wäre. Die Hauptgefahr beschränkt sich in der Skitourensaison meistens auf wenige Wochen und zusätzlich über den ganzen Winter verteilt auf vereinzelte Tage. Wann es gefährlich oder eher sicher ist, darüber gibt uns der Lawinenlagebericht / die Lawinenprognose Auskunft. Darüberhinaus sagt uns der Lawinenlagebericht auch wo (in welcher Region, aber auch in welcher Höhenlage und in welchen Hangrichtungen) besondere Lawinengefahr herrscht, bzw. wo wir relativ sicher unterwegs sein können.
Die Gefahrenstufe konzentriert das Lawinenrisiko in einer Zahl - der Lawinenwarnstufe. Die einzelnen Gefahrenstufen bedeuten für uns folgendes:
Lawinenwarnstufe 1: Geringe Lawinengefahr
Es gibt nur sehr wenige Stellen an denen Lawinen ausgelöst werden können (meist sehr steile und selten befahrene Hänge), meistens auch nur durch eine große Zusatzbelastung, also wenn sich mehrere Leute an einem gefährlichen Punkt versammeln, bzw. gleichzeitig in einen Hang einfahren.
==> Lawinen wenn überhaupt, dann nur bei anspruchsvollen Skitouren zu erwarten.
Lawinenwarnstufe 2: Mäßige Lawinengefahr
Es gibt wenige Stellen, an denen mittlere oder größere Lawinen meist durch große Zusatzbelastung (=mehrere Personen gleichzeitig im Hang) ausgelöst werden können oder es es gibt etwas häufiger kleine Bereiche in denen kleinere Lawinen ausgelöst werden können, dort dann manchmal auch von Einzelpersonen.
==> Die Lawinengefahr beschränkt sich auf besondere Gefahrenstellen, die im Lawinenlagebericht genannt werden.
Lawinenwarnstufe 3: Erhebliche Lawinengefahr
Es gibt viele Hänge, wo man mit großer Zusatzbelastung (=mehrere Hänge gleichzeitig im Hang) Lawinen auslösen kann - teils auch große Lawinen. Oft können auch an vielen Stellen bereits von einzelnen Personen Lawinen abgetreten werden, vereinzelt können sich Lawinen auch von selbst lösen (Spontanlawinen).
==> Grundsätzlich heikel, aber hinter dieser Warnstufe können sich sehr unterschiedliche Situationen verbergen: Manche können für erfahrene Tourengeher noch gut einschätzbar sein, manche sind so kritisch, dass selbst Profis sich nur noch im harmlosen Gelände bewegen können.
Lawinenwarnstufe 4: Große Lawinengefahr
Es gibt viele Hänge, an denen ein einzelner Skitourengeher Lawinen auslösen kann. Es können auch mittlere bis große Sponanlawinen von selbst abgehen.
==> Selbst sehr erfahrene Tourengeher werden verzichten oder nur noch in absolut harmlosem Gelände sichere Skitourenmöglichkeiten finden.
Lawinenwarnstufe 5: Sehr große Lawinengefahr
Sehr seltene Katastrophensituationen (nur 1-2 Tage/Winter irgendwo in den Alpen). Große und sehr große Lawinen können spontan abgehen, ganze Wälder abholzen, Straßen und sogar Siedlungen verschütten.
==> Für Wintersportler irrelevant, bzw. von der Entscheidungssituation ähnlich wie Stufe 4, wenn man aufgrund gesperrter Straßen noch die Möglichkeit hat in absolut harmlosem Gelände unterwegs zu sein.
4 Regeln für die ersten Schritte im Gelände
1. Lawinenlagebericht checken: ==> Nur bei Warnstufe 1 und 2 ins ungesicherte Gelände
Bei dieser Lawinenlage beschränken sich die Gefahrenstellen auf überschaubare Bereiche, die man als Anfänger fast immer meiden kann. Region und Höhenlage der ausgegebenen Gefahrenstufe beachten.
2. Wetterbericht checken: ==> Nur bei gutem Wetter (Sonnenschein) und wenig Wind (< ca. 30 km/h) starten
Bei Schneefall und Wind kann sich die Situation schnell verschlechtern und bei fehlender Sicht kann man von der sicheren Route leicht in gefährliches Gelände gelangen.
3. Tageserwärmung einplanen: ==> Sind Nassschneelawinen möglich, spätestens Mittag wieder am Ausgangspunkt
Warnt der Lawinenlagebericht vor Nasschneelawinen am Nachmittag (meistens ab März oder April der Fall), sollte man früh aufbrechen und möglichst vor Mittag wieder abfahren.
4. Wenig gefährdete Berge und viel begangene Modetouren auswählen
In flachem bis mäßig steilem Tourengelände bis 30 Grad sind bei geringer bis mäßiger Gefahr Lawinen äußerst unwahrscheinlich, selbst bei LWS-Stufe 3, wenn man das Einzugsgebiet beachtet und einschätzen kann. Dort wo es etwas steiler wird sollten sich Einsteiger bei Stufe 2 im Bereich der eingefahrenen der Aufstiegs- und Abfahrtsroute halten. In vielen Skitourenführern werden grundlegende Hinweise zur Lawinengefährdung der beschriebenen Routen gegeben (z. B. "kaum lawinengefährdet", oder "mitunter/manchmal" lawinengefährdet). Tipp: Das Tool Skitourenguru macht dir Vorschläge für Skitouren die anhand der tagesaktuellen Lawinenlage mit geringem Risiko verbunden sind.
Tipps für Tourenanfänger
Raus ins Gelände - aber mit Zurückhaltung
"Schließlich muss man wissen, wovor man sich hüten muss" (Ronja Räubertochter, Astrid Lindgren). Auf einer Pistentour wird man kein Lawinen-Risiko-Management lernen. Pistenskitouren halte ich für den Einstieg in die Lawinenbeurteilung für völlig ungeeignet. Nur wer sich ins potenzielle Lawinengelände wagt, wird sich ernsthaft damit beschäftigen. Das aber immer unter der Voraussetzung, dass es die Verhältnisse erlauben (siehe oben). Es bedeutet also nicht, dass man nicht eine Pistentour gehen kann, wenn man an kritischen Tage auf Skitouren verzichtet. Aber bei Lawinenwarnstufe 1 oder 2 eine Pistentour zu unternehmen ist für Leute, die sich für Lawinenkunde interessieren Zeitverschwendung.
Lawinenkurs besuchen
Lawinenkunde kann man nicht in der Theorie lernen. Am schnellsten und sichersten eignet man sich die Grundlagen im Rahmen eines Lawinenkurses an. Diese Kurse werden von Bergschulen, Alpenvereinssektion oder manchmal auch von der Bergwacht angeboten. Achtet darauf, dass es sich um einen praktischen Kurs handelt, der auch im Gelände draußen auf Skitour stattfindet. Man kann sich allerdings viel Wissen und Erfahrung selbst aneignen und muss nicht mit einem Kurs beginnen. Wer sich intensiv dafür interessiert, wird früher oder später in jedem Fall in dem ein oder anderen Lehrgang landen.
Neugierig und experimentierfreudig bleiben
Wenn es das Gelände und die Situation erlaubt, sollte man sich so viel wie möglich mit den Schneeverhältnissen befassen. Beim Aufstieg immer wieder mal neben der festgetrampelten Aufstiegsspur ein paar Meter seine eigene Spur ziehen, beobachten, was man hört, fühlt und sieht. Mit dem Skistock in die Schneedecke stochern, die Schneekristalle über die Hand rieseln lassen, die man mit dem Skiteller nach oben befördert, Hangsteilheiten messen, den Wind beobachten, wo hat er Schnee verfrachtet, wo abgelagert. Und ab und zu mal tiefer in die Schneedecke graben, die verschiedenen Schichten in einem Schneeprofil begutachten und vielleicht auch mal einen Schwachschichten- oder Stabilitätstest durchführen.
Defensive ist die Devise
Die meisten Lawinenunfälle passieren nicht, weil den beteiligten Tourengehern jegliche Erfahrung oder Wissen fehlen würde, sondern aus Unbekümmertheit oder - noch häufiger - zu großer Risikobereitschaft. Wer bei der Tourenplanung wenige Grundregeln beachtet und unterwegs seine Ambitionen zurückschraubt, nicht auf Teufel-komm-raus unverspurte Hänge befahren möchte oder bedingungslos auf ein Gipfelziel fixiert ist, kann ziemlich sicher auf Skitour unterwegs sein. Anders gesagt: Ein Experte, der die Grenzen auf seinem Niveau ausreizt, lebt gefährlicher als ein vorsichtiger Anfänger.