Endstation Brennero
Viertagestour bei perfektem Wetter
Eine lange Tradition hat mein "Lawinen-Entscheidungstraining" als Ausbildungsveranstaltung im Programm der DAV-Sektion Bergbund Rosenheim. Auch heuer war es wieder bald nach Erscheinen des Kursprogramms ausgebucht und die Warteliste war entsprechend lang. Kurz vor dem Termin entscheiden wir auf dem Theorie- und Planungsabend dann, dass wir in die westlichen Zillertaler Alpen fahren. Das Wetter soll ideal werden, die Lawinenlage ist insgesamt sehr entspannt, so dass wir uns anspruchsvolleres Gelände aussuchen können.
"Ich bin um 7 Uhr in Rosenheim" verspricht Wolfi, der seinen Bus zur Verfügung stellt, so dass wir umweltschonend zu sechst mit einem Fahrzeug anreisen können. Die Alternative wäre die Anreise mit Zug gewesen, aber dann wäre es für einige Teilnehmer nicht möglich gewesen, halbwegs früh am Vormittag in Navis zu sein. Nach eineinhalb Stunden erreichen wir das Bergdorf zwischen Innsbruck und Brenner. Ein sonniger Tag erwartet uns, die Temperaturen liegen im moderaten Minusbereich. Obwohl die Brennergegend nicht zu den schneereichsten zählt, türmt sich auch hier im Schatten fast ein Meter kompakter Altschnee.
Unser erster Gipfel ist die Scheibenspitze. nach moderatem Skigelände mit Ziehwegen und Almwiesen wartet ein bis zu 40 Grad steiler Nordhang unter dem Gipfel. Hier hat es schon mehrere Lawinenunfälle gegeben, der tragischste im Februar 1995, als eine bayerische Alpenvereinsgruppe ein großes Schneebrett auslöste und drei Tourengeher starben. Dem aktuellen Lawinenlagebericht zu folge sind heute aber keine kritischen Schichten in dem Nordhang zu erwarten, die einzelne Tourengeher auslösen können. Wir graben hier zur Übung trotzdem zwei Profile und entdecken zwei potentielle Bruchflächen. Die eine ist sehr oberflächlich unter einer wenige Tage alten, bereits wieder locker werdenden Triebschneeschicht zu finden, die eher kleinräumig vorhanden ist. Eine tiefere, großflächig auffindbare Schicht lässt sich nur mit kräftigem Klopfen und auch dann nur mit gestuftem Bruch auslösen. "Das ist eher unproblematisch" lautet unser Fazit, trotzdem ziehen wir die Gruppe im Aufstieg über den Steilhang etwas auseinander um größere punktuelle Belastungen zu vermeiden.
"Wo sollen wir runterfahren?" frage ich am Gipfel. Es gibt zwei Optionen die Standard-Abfahrt über die Mahder Ochsenalm oder direkt durch den südseitigen Graben hinab nach Toldern, der im unteren Teil Ungewissheit und Abenteuer verspricht. Wir entscheiden uns für die sichere Variante, die aber auch von eindrucksvollen Gleitschneemäulern gesäumt wird. "Augen zu und schnell durch" ist die Devise - bzw. wo es möglich ist, legen wir die Spur so, dass wir nicht in deren Einzugsbereich sind. Gleitschneelawinen sind eine tückische Angelegenheit, sie können zu jeder Tageszeit abbrechen und bei der diesjährigen Schneehöhe ist ihr Abgangszeitpunkt weitgehend unberechenbar.
Nach toller Firnabfahrt ins Schmirntal gibts im Gasthaus Olpererblick erstmal Kaffee und Kuchen und die obligatorische Nachbesprechung. Danach teilen wir uns auf unsere beiden Quartiere auf. Leider konnte Ulli - unsere Organisatorin für die erste Übernachtungsgelegenheit - trotz Bitten und Betteln keine Unterkunft auftreiben in der sechs Personen Platz haben. Wolfi, Schorsch und Micha erklären sich bereit den längeren Marsch zur Holzebensiedlung anzutreten, während Ulli, Sepp und ich zum Gattererhof marschieren.
Nach einem üppigen Frühstück im Gattererhof mit vielen selbstgemachten Produkten marschieren wir ins Wildlahnertal. "Was sollen wir machen - Schöberspitze oder Kleiner Kaserer?" Waren die Optionen, die ich vorgeschlagen habe. "Ich bin für den Kaserer" meint Micha und auch die anderen stimmen dem Vorschlag zu. Die Schöberspitze mit ihren 2600 m ist meinen Teilnehmern also zu popelig. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob der Gipfelanstieg ohne Steigeisen geht, die haben wir nämlich nicht dabei.
Der Weg dorthin ist zwar lang, technisch aber "a gmahde Wiesn": keine allzu steilen oder lawinengefährdeten Passagen, durchgehend eine gute Aufstiegsspur und das sonnige und warme Wetter erlaubt es sogar ohne Jacke und Handschuhen zu gehen. Das ändert sich allerdings schlagartig in der Scharte. Eiskalter Wind bläst von Nordosten herüber, von dort wo sich das Gletscherskigebiet von Hintertux befindet. Bis kurz unter die Scharte reichen die hässlichen Lifte - und als ob das noch nicht reicht, spinnen ein paar geldgierige Touristiker immer wieder mit dem Wahnsinn, die Lifte bis hinab nach Schmirn zu bauen. Man kann nur hoffen, dass sie das nie durchkriegen, es wäre jammerschade um dieses wunderschöne Tal und die tollen Skitouren hier.
Der Gipfelaufstieg ist dann weniger problematisch als befürchtet. Eine tiefe Stapfspur führt am schmalen Grat entlang zum Gipfel, nur an wenigen Stellen kommt der Fels hervor. Das einzig heikle sind die teils starken Windböen, die unser Gleichgewicht herausfordern. Für die Abfahrt übernimmt Ulli die Führung und sie findet zielsicher die optimalen Durchschlüpfe an den beiden Felsriegeln, um so hoch auf den Wildlahnerferner zu kommen, dass wir ohne Gegenanstieg zur Geraer Hütte queren können.
"Die Winterraum ist eigentlich offen, allerdings ist letzte Woche ein Tourengeher nicht hineingekommen und musste draußen in einer Schneehöhle schlafen" erzählt der Hüttenwart dem Sepp am Telefon, als sich dieser über den Zustand des Winterraums erkundigt. Der Raum hat ein Alpenvereinsschloß, das aber eigentlich unversperrt sein sollte, anscheinen hatte es aber jemand gut gemeint und trotzdem abgeschlossen. Zur Sicherheit hab ich daher einen AV-Schlüssel eingepackt. Inzwischen war aber wohl der Hüttenwart nochmal oben, denn bei unserer Ankunft erwartet uns ein unversperrter Winterraum. Dieser ist bestens ausgestattet - mit großem Holzherd, zahlreichen großen Töpfen und 10 Lagerplätzen mit neuen, flauschigen Wolldecken.
Die Hütte steht in gigantischer Landschaft im wilden Felsareal des Valsertales, umrahmt von den 800 m hohen Felswänden von Fußstein, Schrammacher und Sagwand. Die Nachmittagssonne sorgt für angenehme Temperaturen und schmilzt den Schnee auf dem Dach, so dass wir nur den Topf unter das Rinnsal stellen müssen, das aus der Dachrinne kommt. Als Abendessen gibt es Spaghetti mit Fertigsoße, die wir aber mit Zwiebeln, Knoblauch und frischem Parmesan kulinarisch verfeinern. Die Krönung ist die Flasche Rotwein, die meine Teilnehmer mitgeschleppt haben. Da sag noch mal jemand dass Winterräume keinen Luxus bieten.
Nach klarer Nacht ist der Schnee am nächsten Morgen wieder hart gefroren. Beim Blick auf die gegenüberliegende Südflanke der Hohen Warte fällt mir gleich eine frische Lücke auf, die ein Gleitschneeabgang in der Nacht gerissen hat. Wieder mal ein Beweis, dass dieser Lawinentyp eben nicht nur dann abgeht wenn es warm ist. Micha spurt in angenehmen Tempo hinauf zur Alpeinerscharte. Nur die letzten 100 Hm ist es hart und verblasen, jeder hat hier seine eigenen Vorstellungen, wie er den Abschnitt am besten bewältigt. Die einen montieren gleich Harscheisen, während andere noch ohne weiterstopseln, um dann im Steilen doch noch festzustellen, dass man sie besser doch verwendet. Andere stapfen das steilste Stück zwischen den zahlreichen Felsen lieber zu Fuß hinauf.
Letztendlich treffen wir uns alle in der Scharte und blicken hinüber zu den Eisriesen der Zillertaler Alpen. Die Abfahrt in den Schlegeisgrund ist ein absoluter Firntraum vom ersten bis zum letzten Meter. Nur über die optimale Abfahrtsroute sind wir nicht komplett einig. Sepp und Ulli würden am liebsten direkt eine der Rinnen abfahren, von denen man aber von oben nicht sieht ob sie bis unten durchgängig fahrbar sind. "Das mach ich nicht mit" wehre ich ab und letztendlich queren wir alle weit nach links, wo man problemlos eine Etage tiefer kommt, um dann festzustellen, dass die Direktrinne doch gegangen wäre.
Nach der Mittagspause im Talboden steigen wir durch ein wahres Windgangelmeer übers Pfitscherjoch hinauf auf die Rotwandlspitze. Direkt gegenüber ragt die Hochfernerspitze auf mit ihren eindrucksvollen Hängegletschern - eine der wildesten Flanken der gesamten Ostalpen. Wir können diesen grandiosen Schauplatz aber kaum genießen. Böig kalter Wind bläst hier. Schnell packen wir zusammen und beginnen mit der Abfahrt. Plötzlich höre ich ein kratzendes Geräusch hinter mir und Ulli schießt mit zwei Überschlägen auf der verharschten, 35 Grad steilen Flanke an mir vorbei, fängt sich aber nach 30 Metern wieder. Sie war wohl an einer Windgangel hängen geblieben und gestürzt. Zum Glück ist nichts passiert - hier im Nirgendwo.
Die weitere Abfahrt verläuft erstmal problemlos, wenngleich der kalte Wind das Aufweichen der Schneedecke verhindert. Als wir endlich aus dem Wind raus sind, müssen wir noch den Weg über die letzte Steilstufe hinab zur Pfitscher-Joch-Straße finden - und jetzt wird der Schnee schlagartig sehr weich. Über einige Gleitschneemäuler hinweg und unterhalb einiger nicht ganz unproblematischer Hänge finden wir dann doch noch die richtige Querung und schieben im Bremsschnee die Straße hinab zum Gasthaus Stein im hintersten Pfitschertal, wo wir ohne Reservierung aufs Geratewohl nach einer Übernachtungsmöglichkeit anfragen.
"Nein, heute nehm ich keine Übernachtungsgäste, ich hab morgen ganz früh einen Arzttermin" offenbart uns Wirtin. Da sie alles andere als kerngesund aussieht, sparen wir uns weitere Diskussionen. Sie meint, 10 Minuten unterhalb wäre eine Bushaltestelle, wo in 10 Minuten der Bus talauswärts fährt. Wir beeilen uns, aber nachdem wir die Haltestelle nicht auf Anhieb finden ist der Bus natürlich weg. So marschieren wir noch 2,5 Kilometer talauswärts bis nach Sankt Jakob, wo wir im Gasthof Neuwirt eine gute - und für die Abschlussetappe am nächsten Tag ideal gelegene - Unterkunft finden.
"Feuchte und nasse Lawinen sind schon am Morgen möglich" ist die Kernaussage des Lawinenlageberichts - ergänzt um den Hinweis "Mit der tageszeitlichen Erwärmung und der Sonneneinstrahlung steigt die Auslösebereitschaft von feuchten Schneebrettlawinen auch an Schattenhängen unterhalb von rund 3000 m allmählich an." Das hört sich um einiges dramatischer an als wir es aufgrund der Beobachtungen der letzten Tage erwartet hätten. Am Vortag war selbst südseitig oberhalb 2500 m noch alles bockhart gefroren, schattseitig bis unter 2000 m Pulverschnee. Das war allerdings die Prognose für die Südtiroler Seite der Zillertaler Alpen. Im Nachhinein relativiert sich das ganze, wenn man sich (wie ich erst am Abend) die Prognose für Nordtirol anschaut, der das Durchfeuchtungsproblem nur auf Sonnenhänge unterhalb 2600 m eingrenzt. So ganz perfekt ist die Abstimmung also trotz des großen Euregio-Projekts "ALBINA"-Lawinenlagebericht dann doch noch nicht.
Etwas angespannt ob des 45 Grad steilen, südseitigen Gipfelhanges starten wir im Pfitschertal in den Tag. Der Wolfi beweist seine Schwammerlsucher-Spürnase und führt uns gekonnt durchs Dickicht zu den riesigen freien Hängen der Pirstlingalm. Der Gipfelhang erweist sich dann als perfekt aufgefirnt, aber nicht durchweicht. So können wir entspannt ohne Harscheisen zum Gipfel des Kraxentrager aufsteigen. Aber noch haben wir nicht gewonnen. Der steile Westhang sieht sehr steinig aus und die Gruppe, die von dort zu Fuß heraufgestiegen ist, ist anscheinend nach Süden abgefahren. Wir finden aber unseren Weg durchs Labyrinth, auch wenn es bei dem ein oder anderen ein paarmal am Belag kratzt. Danach folgt eine herrliche Abfahrt im immer noch pulvrigen Schnee bis zur Waldgrenze.
"Sollen wir die Wasserfallabfahrt versuchen?" frage ich in die Runde. Keiner kennt diese Route und letztendlich will die Mehrheit lieber über den schmalen Sommerweg abfahren, da wir nicht wissen wie der Wasserfall aussieht und ob bereits die Sonne drin steht. Endlich unten im Venntal angekommen rutschen wir auf der vereisten Fahrstraße hinaus zum Brenner, wo wir noch 15 Minuten um Bahnhof marschieren. Mit dem Zug geht es dann nach Matrei, wo wir den Wolfi mit dem Taxi nach Navis schicken, während wir in einem Cafe bei Stromausfall schon mal die Getränke ordern für die allerletzte Abschlussbesprechung dieser rundum gelungenen Tour.