Spätherbst im Westkaiser
Einsame Rundwanderung um den Scheffauer
Langsam reicht's mir - seit Tagen grauer, feuchter Nebel in Rosenheim. In den Bergen liegt zwar kein Schnee, dafür herrscht bestes Wetter und nach Wochen mit vielen 11-Stunden-Tagen ohne Bewegung am PC brauche ich unbedingt frische Luft. Ein halbherziger Versuch von den Bayerländern einen Kletterpartner für ein wenig Südwandkraxeln zu motivieren, bringt keinen Erfolg. Darum beschließe ich kurzerhand, mal wieder im Wilden Kaiser herumzustromern.
"Der Scheffauer war die Initialzündung für meine Bergbegeisterung"
Als Ziel visiere ich die Überschreitung des Scheffauer an. Diese Tour war meine allererste Kaisertour. Mein Onkel hat mich als 15jährigen dorthin mitgenommen, es war sozusagen die Initialzündung, für meine Bergbegeisterung. Erstmals konnte ich meinen "alpinen Horizont" über die - von meinem Wohnort mit dem Radl erreichbaren - Hügel des Mangfallgebirges erweitern und in mir ist der Gedanke gereift, Bergsteiger oder am besten Kletterer zu werden. Konditionell war die Tour kein Problem - die Anfahrt mit dem Auto war ich ja nicht gewöhnt. Die steilen, luftigen Passagen durch die Nordwand hingegen hatten mich schon beeindruckt, allerdings war mir damals gleich klar, dass das mein Ding ist.
So kurve ich also heute an diesem kristallklaren aber kalten Dezembertag die Eibergstraße hinauf nach Scheffau und weiter zum Gasthaus Bärnstatt, wo sich mein Ausgangspunkt befinden soll. Der normale Zustieg über die Walleralm ist mir zu langweilig und so suche ich mir meinen Weg durch den Wald hinauf zum Wilder-Kaiser-Steig. Der Schnee von November ist hier auf der Südseite komplett verschwunden, der Boden hartgefroren.
Über die Westseite geht es zur Steinbergalm
Am Steig angekommen, quere ich auf diesem um die Westseite oberhalb der Walleralm. Weiter oben, am Hocheck, diesem schönen Aussichtspunkt am Westende des Wilden Kaisers liegen im Schatten 5 cm Schnee. Wobei - was heißt Schnee? Eigentlich handelt es sich um Raureif, das Bisschen Schnee wurde von der Kälte inzwischen in ähnliche Kristallformen umgewandelt. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, statt dem Widauersteig über den Zettenkaiser und seinem Westgrat zum Scheffauer zu steigen. Mein Bauchgefühl sagt mir allerdings, dass das heute keine so gute Idee ist: Für eine richtige Winterbegehung liegt zu wenig Schnee, aber der Fels ist trotzdem weiß. Meine Routine bei solchen Bedingungen ist nicht mehr das was sie mal war und ich weiß daher nicht, ob ich mir das heute solo zutrauen kann, daher verwerfe ich den Gedanken wieder.
Also wandere ich hinab zum einsamen Gefrierschrank von Steinbergalm und Kaindlhütte, die um diese Zeit ganztägig im Schatten liegen. Am Weg zum Scheffauer steht ein dickes Schild "Zettenkaiser Ost gesperrt". Ich halte das für Blödsinn, eine alpine Kletterroute zu sperren, da jeder Alpinkletterer ohnehin eigenverantwortlich unterwegs ist. Man sollte vielleicht besser schreiben "wegen akuter Felssturzgefahr abzuraten", damit jeder abschätzen kann mit welchem Risiko er es zu tun hat.
In der alten Ostwandroute hat sich ein LKW-großer Teil des riesigen Plattenschusses gelöst und hängt jetzt absturzbereit über der Wand. Der Hauptblock wird sicher nicht durch einen Kletterer zum Absturz gebracht, allerdings liegt in der Rinne unterhalb viel frisches, loses Material. Letztendlich ist eine Begehung jetzt vermutlich ein eher gefährliches Unterfangen. An den losen Felsbrocken befindet sich auch einer der geklebten Stände der "Alten Ostwand". So hat jetzt die Natur das "Werk" der Kaiser-Hakensäger in dieser Route fortgeführt. Wer trotzdem aus dem Großen Friedhof auf den Zettenkaiser möchte, dem empfehle ich den Klammer-Riss mit Weiterweg über den Ostgrat - eine Route, die nicht durch das Damokles-Schwert bedroht ist.
Der Aufstieg ist überraschend problemlos
Ich steige weiter hinauf auf die plattige Scheffauer Nordwand zu. Eine einsame Gams schaut mir entspannt zu, sie weiß wohl dass meine Kamera-Objektive kein Blei spucken. Am Einstieg des Widauersteigs ist es Zeit für eine heiße Tasse Tee. So sonnig und mild das Wetter auf der Südseite erscheint, so kalt ist es hier im Schatten. Ich streife die Handschuhe über und steige entlang der Drahtseile durch die Nordwand auf.
Die gut 5 cm Schnee liegen locker und pulvrig auf den Felsen - kein Eis, kein Altschnee. Entspannt steige ich hinauf auf das große Band und quere in die Schlucht zwischen Scheffauer und Westlichem Hackenkopf. So nach und nach zeigen sich auch die ersten kleinen Altschneefelder, die recht hart sind. Allerdings finden sich teilweise noch alte Fußstapfen von Vorgängern, die schon vor längerer Zeit heraufgestiegen sein müssen, so dass ich die Altschneefelder wie über eine Treppe aufsteigen kann.
Nur dort wo herabrutschender Neuschnee die alten Tritte zugeschüttet hat, muss ich einige Stufen schlagen. Steigeisen hab ich als Backup im Rucksack, brauche sie aber nicht. Zwei kurze Wassereisstellen verlangen etwas Vorsicht und das letzte sehr harte Schneefeld kurz vor der Scharte zwingt mich nach rechts in die Schrofen, ansonsten ist der Aufstieg überraschend problemlos, die Seile sind nur an wenigen kurzen Stellen unter dem Schnee, ansonsten immer greifbar. Endlich in der Sonne, schlendere ich die letzten Meter nach Westen zum Gipfel.
"Kaum Leute am Gipfel und eine grandiose Aussicht"
Was für eine Aussicht. Im Norden geht der Blick hinaus nach Rosenheim, in meine Heimat. Im Süden steht ungetrübt der Alpenhauptkamm und dazwischen breitet sich das Tirolerland aus - für mich eigentlich auch Heimat: Unzählige Regionen hab ich hier schon erkunden, Menschen kennengelernt, Erlebnisse gesammelt. Mit dem ganzen Nationen- und Volks-Getue hab ich noch nie was anfangen können, jetzt noch viel weniger, wo einige machtgierige Politiker wieder versuchen die Menschen danach zu sortieren. Gerade ist die Republik Österreich nochmal mit einem "grünen" Auge davongekommen: Die Mehrheit der Menschen hat sich nicht aufhetzen lassen von einem Ewiggestrigen, der die Zukunft der Europäer im Gegeneinander statt im Miteinander sieht. Wie im Mittelalter mit Grenzen, Zöllen und in der Folge zwangsläufig mit Kriegen. Es bleibt zu hoffen, dass die etablierten Parteien endlich Konsequenzen ziehen und sich ihrer Verantwortung bewusst werden, denn es liegt Einiges im Argen.
Kaum Leute sind heute auf dem Gipfel - trotz traumhaftem Wetters. Klar - es ist ein Wochentag, aber an einem ähnlich schönen Septembertag wären 20-30 Leute hier. Ein neues, sehr massives Kreuz wurde in diesem Jahr hier auf dem Scheffauer installiert, von den Sportschützen Scheffau. Größere Anstrengungen und Kosten wurden unter Mithilfe vieler Akteure und des Tourismusverbandes bewältigt. Aber Gipfelkreuze sind ja für eine Region auch eine Art Statussymbol, da will man sich nicht lumpen lassen.
So langsam wirds Zeit für den Abstieg. In der steilen, schrofigen Südseite hat sich der Schnee durch den Wechsel von Sonne und Kälte auf den Wegen zu Eis verwandelt, so dass es an einigen Stellen sogar unangenehmer zu gehen ist als auf der Nordseite. Der allergrößte Teil der Wege ist aber bereits schneefrei und trocken, nur auf dem abgespeckten Fels muss man sauber steigen, um nicht wegzurutschen. Im warmen Nachmittagslicht geht's über die Steiner-Hochalm mit Blick auf den Hintersteiner See zurück zum Auto und ein erholsamer Bergtag geht zu Ende.