Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert
Die Ahornspitze ist im Tagestouren tauglichen Radius von Rosenheim einer der Berge mit dem größten Höhenunterschied. Vom Bahnhof Mayrhofen (625 m) zum Gipfel (2973 m) sind es auf gerade mal sechs Kilometer Luftlinie sage und schreibe 2350 Höhenmeter. Von Rosenheim fährt man ziemlich genau 100 Kilometer bis dorthin, für mich - besonders angesichts der Klimakrise - deutlich zu weit um diese lange Strecke alleine mit dem Auto zurückzulegen.
Also checke ich am Mittwochabend die Zugverbindungen für Donnerstag: Ich könnte um 6 Uhr in Rosenheim starten und mit Bummelzügen fahren. Dann bin ich aber 2,5 h unterwegs und zahle 50 Euro. Es gibt aber noch ein Sparpreisangebot für den EC. Die Vorteile: 10 Euro günstiger und die Fahrzeit reduziert sich auf 1:45 h. Außerdem kann ich noch gemütlich mit der Familie frühstücken, weil ich erst um viertel nach 8 Uhr am Bahnhof sein muss. Die Nachteile: Ich bin an die gebuchten Züge gebunden und erst um 10 Uhr in Mayrhofen, recht spät für so eine lange Tour. Geht sich das zeitlich für mich überhaupt aus, den Rückfahrtzug um 17.45 Uhr noch zu erwischen?
Der Plan
Vom Bahnhof bis zum eigentlichen Beginn der Tour sind es zwei Kilometer - also etwa eine halbe Stunde. Dafür hab ich dann aber bereits 150 Höhenmeter hinter mich gebracht. Die restlichen 2200 Höhenmeter haben keine Flachstücke, das könnte ich in 4 Stunden schaffen. Vom Gipfel zum Skidepot muss ich ca. 250 Höhenmeter absteigen, je nach Verhältnissen wird das etwa eine halbe Stunde erfordern. In der Abfahrt ist ein Gegenanstieg von ca. 50-100 Hm mit Querungen enthalten, macht nochmal etwa eine halbe Stunde. Dazu veranschlage ich insgesamt eine Stunde für die 2100 Hm Abfahrt. Summasummarum sind das 6,5 h. Mir bleibt also eine halbe Stunde für Pausen und Fotos, damit ich um 17 Uhr wieder in Mayrhofen bin. Den Rückweg zum Bahnhof gilt es ja dann auch noch zu bewältigen und eine halbe Stunde Pufferzeit gönne ich mir - soviel Luxus muss sein.
Die Anreise
Nach einem entspannten Frühstück radle ich mit Tourenskischuhen an den Füßen und Skiern am Rucksack zum Bahnhof. Der EC rollt pünktlich ein, zuckelt aber im Bayerischen Inntal extrem langsam dahin. In Kufstein haben wir 10 Minuten Verspätung. Na Bravo, meine Umstiegszeit in Jenbach ist damit aufgebraucht. Zum Glück holen wir auf der gut ausgebauten Österreichischen Strecke wieder etwas auf. Trotzdem jogge ich in Jenbach hinüber zur Zillertalbahn. Wenn mir die davon fährt, kann ich den Plan knicken. Ich erreiche die historische Schmalspurbahn aber rechtzeitig. Im Sightseeingtempo rollt sie nun durchs Zillertal bis Mayrhofen. Außer mir ist nur eine Hand voll Pistler im Zug. Sie schauen etwas ratlos, als ich Felle auf meine Ski klebe. Pünktlich um 10 Uhr steige ich aus dem Zug und marschiere durch das relativ ruhige Mayrhofen meinem Berg entgegen.
Der Aufstieg
Aufstiege über Skipisten mag ich nicht, auch wenn die Talabfahrt jetzt am vormittag noch menschenleer ist. Daher hab ich mich für eine andere Variante entschieden und zwar den Sommerweg zur Alpenrosehütte. Der führt durch einen steilen, west- und nordexponierten Hochwald und ist komplett schneefrei. Mit Ski am Rucksack gewinne ich schnell an Höhe und bin früher an der jetzt geschlossenen Jausenstation als geplant. So gönne ich mir erstmal eine Mittagspause. Nun geht es mit Ski weiter. Anfangs muss ich noch selber spuren, dann treffe ich auf eine Aufstiegsspur, so dass ich kraftsparend und zügig vorankomme. Am Skidepot bin ich gut in der Zeit, aber so langsam merke ich, dass ich nicht mehr frisch bin. Vielleicht wäre es doch gut gewesen, im grauen Herbst etwas Zeit in ein Fitnesstraining zu investieren. Indoor-Sportgeräte sind ja gar nicht mehr so teuer und man kann heutzutage bequem und ohne Schlepperei ein Laufband online kaufen. Damit lässt sich ein systematisches Ausdauertraining noch effizienter gestalten als auf der Joggingrunde im Wald. Aber jetzt ist es zu spät dafür: Die Stapferei zum Gipfel ist so anstrengend wie ich es befürchtet hab. Aber sie geht gut ohne Steigeisen. Diese durften aus Gewichtsgründen zu Hause bleiben. Am Gipfel habe ich 20 Minuten Zeitreserve. Ich genieße die grandiose Aussicht auf die Zillertaler Alpen, den Blick auf das 2300 m unter mir liegende Mayrhofen und vertilge die Reste meiner Brotzeit. Der Abstieg erfordert nochmal Konzentration. Er ist zwar nicht schwierig, aber einige Passagen sind etwas eisig und es gibt durchaus Stellen, wo man runterfallen könnte.
Die Abfahrt
Um 16 Uhr beginne ich am Skidepot bei tollem Spätnachmittagslicht die Abfahrt. Die ersten hundert Meter sind ziemlich windgepresst, aber sobald ich im flacheren Teil bin, erwartet mich feinster Noppenpulver. Ohne große Kraftanstrengung cruise ich durch das riesige Kar hinab. Wenn ich noch etwas frischer wäre, könnte ich wohl die ganze Strecke am Stück fahren, aber so bleibe ich doch zwei oder dreimal stehen und lasse meine Oberschenkel kurz pausieren. Vor der untersten Steilstufe verlasse ich das Kar nach links. Hier muss ich wieder die Felle aufziehen und einige kurze Spitzkehren aufsteigen, um auf der Trasse des Sommerwegs ins Filzenkarl und dieses querend hinüber zum Skigebiet zu gelangen.
Um Dreiviertel fünf taucht die untergehende Sonne die Ahornspitze in ein goldenes Licht. Zeit abzufahren. Die Lifte stehen bereits still und die Pisten sind fast menschenleer. Ein aufsteigender Pistengeher kommt mir noch entgegen. Nur drei oder vier Leute treffe ich auf der 1200 Höhenmeter langen Talabfahrt. Auf die Minute genau um 17 Uhr schnalle ich am Ortsrand von Mayrhofen die Ski ab. Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert.
Die Heimfahrt
Gemütlich spaziere ich durch Mayrhofen in Richtung Bahnhof. In der Hauptstraße wuselt es jetzt. Touristen mit und ohne Ski bevölkern die Gehsteige, so dass ich teilweise auf der Fahrbahn marschiere um vom Fleck zu kommen. Ich hab noch eine halbe Stunde Luft und würde mir gerne etwas zu Essen und zu Trinken kaufen. Kneipe an Kneipe reiht sich hier, aber eher von der abstoßenden Sorte. Alles mit lauten Menschen überfüllt - nichts, wo ich einkehren möchte. Also gehe ich weiter zum Bahnhof. Der Bahnhofkiosk macht für mich einen besseren Eindruck. Nur ein paar Einheimische sitzen hier beisammen. Ein entspanntes älteres Paar bedient mich freundlich. Ich bestelle mir eine Suppe und ein Radler, danach besteige ich den bereits wartenden Zug. Zwei Stunden später sitze ich daheim zufrieden vor einer großen Schüssel Nudeln.